Samstag, 31. März 2012

(Ich habe nachgedacht).

Ist dort draußen etwas? Jemand? Dann erzähle ihm von dieser Welt. Die Einzelheiten. Über die Kühlschränke zum Beispiel, und dass sie Gefrierfächer haben; aber früher, vor 35 Jahren, hatten sie nur so kleine Boxen für Eiswürfel. Dass man damals keine Tiefkühlpizza in diese Eiswürfelfächer hinein legen konnte, aber dass das nicht schlimm war, denn die erste Tiefkühlpizza (von Dr Oetker) kam viel später (in den 70er Jahren) auf den Markt (Salami).
Erzähl von den Glasplatten im unteren Bereich des Kühlschranks, auf denen die Wurst und das Fleisch tiefer gekühlt wurden, weil Glas die Kälte besser aufnimmt und hält als Plastik. Erzähl von der winzigen Glühbirne, die erst anging, wenn man die Kühlschranktür öffnete.
Erzähl von der Kühlschranktür, und wie sie bei den alten Geräten einrastete, und darüber wie die Eltern immer die Kinder ermahnten: Niemals, niemals, sollst du dich in den Kühlschrank setzen, denn dann geht die Tür versehentlich zu, und von Innen bekommst du sie nie wieder auf. Und dann...

... dann musst du ersticken. (Tote Kinder, aber, nein, sie leben noch alle. Sie sitzen auf den Kühlschränken von Bosch und Siemens. Sie hören der elektrischen Kaffeemühle zu. Orange und sehr laut).

Erzähl den Ausserirdischen von den Kühlschränken.

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Ich habe mir gerade vorgestellt, Max Brod hätte seine Pflicht getan, und ich wäre heute, in einer Flohmarktkiste, auf das dünne Büchlein eines obskuren Schriftstellers gestoßen: "Betrachtung". Ach, und da, unter dem Uta-Danella-Schmöker liegt ja noch eins. Wie heißt denn das? "Die Verwandlung"? Ganz hübscher Titel, ich glaub, das nehm ich auch noch mit. Was kosten die zusammen? Ach, jedes Buch nur 50 Cent? Hamse noch mehr von dem hier? Kafka? Keine Ahnung, nie gehört. Dahinten, bei den Groschenheften liegt vielleicht noch eins? Na, dann will ich mal nachsehen. Ich hab gerade in dieses hier reingeblättert (hält "Die Verwandlung" hoch) - liest sich ganz interessant. Ja. Ah, danke fürs Raussuchen. Mh, "Ein Hungerkünstler". Das ist aber arg angeschmutzt, und der Rücken ist halb abgeplatzt. Ach, das ist ja nett. Drei für einen Euro.
Ja, gerne.
Ach, und hamse ne Plastiktüte, es fängt gleich an zu regnen.

Nebenbei: blättert man durch die Seiten von ebay, oder wühlt in den realen Flohmarktkisten, bekommt man massive Depressionen: selbst mir sind mehr als 90 % der Autoren völlig unbekannt. Lebenswerke, Bände um Bände, damals jedes einzelne Buch mit dem Lohn von drei Stunden Arbeit bezahlt, jedes einzelne Buch: Altpapier.
Geradezu rührend, wie manch uninformierter Mensch im Internet seine Schiller-Gesamtausgabe von 1977 (Buchclubausgabe; immerhin gab´s für die Mitgliedschaft ein Telespiel mit PONG und SQUASH) für schlappe 50 Euro feil bietet. Lachhaft und eben auch rührend. Altpapier.
Keine neue Erkenntnis, aber nichtsdestotrotz frustrierend.

Das erste Buch vom Franzl ("Betrachtung") verkaufte sich so schlecht, dass die Erstausgabe noch zwölf Jahre nach Druck zu haben war. Die Auflagenhöhe war 500 Exemplare. Franzl hatte also weniger als 50 Stück im Jahr verkauft. --- Und jetzt gefällt das mehr als 500.000 Leuten bei Facebook - ihr sollt nicht Kafka mögen, ihr sollt zeitgenössische, ernste Literatur kaufen. Herrgottnochmal.

Der Hl. Franz von Generali


(Und nun lese ich gerade, dass Kafka die Lasker-Schüler nicht ausstehen konnte, weder als Person, noch als Dichterin. Zitat von Franz: "Ich kann ihre Gedichte nicht leiden".
Mir ja auch immer ein völliges Rätsel geblieben, warum fast alle die Else gut finden. Nicht nur das halbgebildete Lehrer-Publikum (und ähnliche Mollusken), sondern größtenteils auch die zeitgenössischen Dichter. Ich höre immer wieder den einen oder die andere schwärmen. In Wirklichkeit sind Else Lasker-Schülers Zeilen aber: ein selbstgefälliges, sich blähendes, mit falschen Gefühlen überzuckertes Geschreibe. Kindisch, pseudoexotisch, wenig ernsthaft oder tiefgründig.
Leichte Kost für die Art von Massen, die nach den bohemehaften, exaltierten Dichtern sucht.)


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Stattdessen die Vita des Herrn Kafkas ab dem Jahre 1922:

Nachdem im Dezember 1922 an der Charité in Berlin das Penicillin durch Alfred Grotjahn entdeckt wurde, begab sich Franz Kafka dort unverzüglich in Behandlung. Im Zeitraum der Therapie lebte Kafka mit seiner Freundin Dora Diamant in der Grunewaldstraße 13 (Steglitz).
Nach seiner vollständigen Genesung zog er zurück zu seinen Eltern nach Prag. Da er dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen war, arbeitete er nur noch halbtags in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt und konzentrierte sich auf sein Schreiben. 1930 erschien dann sein achtzigseitiger Kurzroman "Vor der Verhandlung" bei Ernst Rowohlt Berlin.
Im darauf folgenden Jahr zog Kafka, nach dem Tod seines Vaters, erneut nach Berlin, wo er sich auch seiner ehemaligen Geliebten Dora Diamant wieder annäherte. Die nächsten Monate wohnten die beiden in der Cranachstraße 5 in Neu-Friedenau, bevor sie sich gemeinsam mit Kafkas Freund Max Brod nach Palästina einschifften. Dieser Entschluss wurde nicht zuletzt durch den erstarkenden Antisemitismus in der Reichshauptstadt begünstigt.
In Palästina angekommen, lebten die Drei die Zeit bis zum Kriegsausbruch in dem Kibbuz Bet Sera. Kafka arbeitete nebenher als Filmkritiker für deutsche Emigrantenzeitungen und veröffentlichte 1939 - fünf Tage vor Kriegsausbruch - sein Hauptwerk, den mehr als achthundert Seiten zählenden Roman "Das Schloss" in dem kleinen Tel Aviver Verlag Salman Schocken.
1943 trennte sich Kafka von Dora Diamant und zog nach Jerusalem, wo er bis 1947 die Zeitschrift "Stern und Siegel" herausgab, die eine der wichtigsten Publikationsorte für deutschsprachige Schriftsteller in der Emigration wurde. Zugleich versank Kafka in tiefe Depressionen, da er über den Verbleib seiner Familie nichts heraus finden konnte. Erst 1946 erfuhr er über Max Brod, dass alle seine drei Schwestern in der Todesmaschinerie der Nazis umgekommen waren.
Seinen Schwestern setzte er daraufhin ein Denkmal mit dem legendären Spätwerk "Schattenlabyrinth", das Kafka in den Jahren bis 1954 schrieb, und das nach langer Verlagssuche 1957 bei Hanser in München erschien. Das Buch wurde der Überraschungserfolg der Frankfurter Buchmesse 1957, und Kafka wurde in allen großen Kulturbeilagen eingehend und begeistert als die Wiederentdeckung des Jahrzehnts besprochen.
Nicht zuletzt diese späte Anerkennung bewog den mittlerweile 74jährigen nach Europa zurückzukehren. Er wohnte die letzten Jahre seines Lebens im Münchener Stadtteil Grunwald in einer Einlieger-Wohnung der Villa eines wohlhabenden Bekannten.
1962 veröffentlichte Kafka einen letzten Band mit vier späten Erzählungen, und im selben Jahr schrieb er für die FAZ die erste deutschsprachige Kritik über eine Popgruppe, die den Namen "The Beatles" trug.
Franz Kafka starb im Alter von 81 Jahren am 1. Februar 1964 in München.
In seinem Nachlass fand sich kein einziges unveröffentlichtes Manuskript.

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Samstag, 24. März 2012

Schönheit liegt im Gehirn des Betrachters. Schönheit entsteht in der Fokussierung des Bewusstseins, dass sich auf das konzentriert, von dem es beschlossen hat (angeleitet durch Temperament, Erziehung und Wechselwirkung), dass es schön sei.
In der Bildender Kunst ist es einfach: gleicht die Proportion des Bildes auch nur in Details der des Menschen, wird das Abbild von was auch immer als schön betrachtet. (Vermutlich trifft das auch auf die Proportionen der Natur als solches zu, was die Schönheit der abstrakten und informellen Bilder erklären würde). Aber was sind diese Proportionen übertragen in einen Text?
(Das ist) der Rhythmus des Menschen, Atem, Blutbewegung, Schrittschnelle, abgebildet in Wörtern, in ihrem Rhythmus, ihrer Bewegung, ihrem Klang. Gedichte werden als schön empfunden, wenn sie einen Gleichklang in sich selbst haben, in den Lauten. Vokalgleichmäßigkeiten, Konsonatenfugen.

Das Problem: ein Abbild kann dumm sein und trotzdem schön (die Photographie einer Biene). Bei dem Gedicht ist das nicht möglich. (Sonst wäre Karel Gotts Biene-Maja-Lied in den Großen Conrady aufgenommen worden).

Rede ich Unsinn? Nein, ich DENKE Unsinn.

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Freitag, 23. März 2012

Endlich zuckt der Roman wieder. Heute Nacht 10.000 neue Zeichen. In einem unglaublichen Rutsch. Also jetzt insgesamt 130.000. Das bedeutet, dass ich den bisherigen Teil des Romans auch in 13 Tagen hätte schreiben können. Wenn ich nicht nachgedacht hätte. Doch ohne ging es leider nicht; man fühlt sich ganz und gar behindert. Und dieses Nachdenken kostet immer soviel Zeit. Ich sollte nicht denken, ich sollte schneller schreiben.
Gedichte sind einfacher. Da denkt es in mir von selbst, wenn der Stift in die Hand gesprungen ist. Das tut er aber auch erst, wenn mich mein Unterbewusstsein, oder mein Überich überlistet hat, denn es hat schon nachgedacht, ohne meinem ICH davon zu sagen. Und sowas nennt man dann den Kuss der Muse. Bleib mir vom Leib mit deinen feuchten Schmatzern.

Ich muss nachdenken. Ich muss denken! Weg, Muse, weg.


(Nu komm, sei nicht beleidigt, war nich so gemeint).


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Donnerstag, 22. März 2012

Friedenau, der Spielplatz um die Ecke. Plötzlich wimmelt es dort von... wie nenne ich sie denn? Pöbel? Prolls? Asoziale?
Die neuen Vierjährigen, denen der Lebenshass schon bis zur Unterlippe steht, rempeln meinen Sohn an, und wenn er dann ruft "Hey, was soll das?", dann spucken sie in seine Richtung und pöbeln in schlechtem Deutsch hinterher. Derweil die Mütter Zigaretten paffend breitbeinig auf der Bank sitzen und nicht mit der Wimper zucken.
Wo kommen die plötzlich her? Früher waren die doch auf dem Asozialen-Spielplatz auf der anderen Seite des Damms. Können die nicht bitte umgehend nach Neukölln ziehen, oder in die Spandauer Vorstadt?
Wenn mein Kind sich weh getan hat, und ich es tröste, im Arm halte, dann stehen sie daneben und feixen uns an. Eine geradezu ekelige Schadenfreude trieft ihnen aus den Mundwinkeln. Plötzlich wieder so ein Gefühl wie im Reuterkiez, oder wie in Friedrichshain kurz nach der Wende. Ich ziehe die Schultern hoch und bin auf Ärger gefasst, obwohl ja wirklicher Ärger nicht droht, aber dieses unkomfortable Gefühl nistet sich wieder in meinem Körper ein, dass ich glaubte abgestreift zu haben, nachdem ich aus Neukölln fortgezogen war (damals, als es noch nicht der neue Szenekiez war, und die Schluckies an der Ecke meiner Frau üble Sachen hinterher gröhlten).

Ich mag es weniger und weniger, das deutsche Proletariat, oder wie immer man es nennen mag, ich mag sein schlechtes Benehmen nicht, seine eierschlenkernde Großkotzigkeit, die Intellektuellen- und Bildungsfeindlichkeit. Primitiv, dumm und stolz darauf.

Dabei komme ich zu einem Teil ja selbst dort her, habe die schlechten Schulen besucht, habe in den schlechten Stadtvierteln gewohnt, war verarmt (bin es noch), habe für 8 Mark 50 Zehnstundenschichten geschoben; aber vermutlich genau deshalb sind mir die Leute zuwider. Ich habe zuviele von der Sorte kennengelernt. Ich will so weit wie möglich diesem Unbehagen entfliehen, dass mich wohl schon damals im Griff hatte, auch wenn ich es versuchte mit Freundlichkeit und Verständnis auszugleichen. Und mit sozialistischer Ideologie. Aber wenn ich mir jetzt vorstelle: Diktatur des Proletariats. Und wenn ich mich auf diesem Spielplatz umschaue (der letztendlich kein Vergleich zu einem Spielplatz am, sagen wir, Wildenbruchplatz ist), dann weiß ich: never ever.

Und ich will nicht, dass mein Sohn in Gesellschaft der Kinder solcher Leute aufwächst, ich will nicht, dass er auf dieselbe Schule geht. Ich will, dass er sich fernhält.

Wenn das Proletariat, oder wie man es auch immer nennen mag, irgendwann seinen überdimensionierten 3-D-Flachbildschirm ausschaltet (ja, ja, ein Cliché), ein, zwei Bücher liest und ein paar Umgangsformen lernt, dann, ja dann können wir noch mal darüber sprechen.

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Dienstag, 20. März 2012

Mein Sohn postulierte heute, als ich mit ihm zusammen an seinem Tisch Ostereier mit Filzstiften zeichnete, und wir uns dabei angeregt unterhielten, dass er sich gerne langweilen würde, denn beim Langweilen könne man so gut nachdenken.
Es fasziniert mich, wie ein Dreijähriger schon solche Reflektionsgabe, solche, ja, Nachdenklichkeit entwickeln kann.
Zur Zeit denkt er darüber nach, ob er Vegetarier werden soll, so wie seine Mutter, aber bislang hindern die Schnitzel seines Vaters ihn auf seinem Weg.
Plötzlich entwickelt sich Moral. Vor ein paar Monaten noch zog er den anderen Kindern die Schaufel über den Kopf, wenn sie ungefragt ein Spielzeug von ihm nahmen. Jetzt teilt er ungefragt seine Brausebonbons – die er zusammen mit einem PEZ-Spender erst wenige Minuten zuvor bekommen hatte – mit völlig fremden Kindern. Soziales Verhalten, Moral, Intellekt, all das scheint jetzt zu beginnen. Auch die ersten wirklichen Interessen – und somit vielleicht Talente; Ballett ist sein erster Traum. Ich bin gespannt, wie er die Ballettschule in der Wirklichkeit finden wird.


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Montag, 19. März 2012

Am unsympathischsten auf der Messe waren mir die Leute an den Ständen der linken Buchverlage. Edition Ost und dergleichen. Kein einziger Mensch darunter, der auch nur für fünf Kopeken nach Revolutionär aussah, stattdessen glatte, satte Funktionärsgesichter, allerdings ohne Funktion.
Ich wunderte mich über mich selbst, wie ich so an den Ständen vorbeischlenderte, und plötzlich schnell weiter wollte. Früher hätte ich dort, so ist zu befürchten, Genossen gehabt. Zu der Zeit, als ich noch auf Demonstrationen, auf Straßenschlachten Barrikaden baute, wenn auch keine Steine warf; das Leben und die Unversehrtheit des Einzelnen, sei es auch ein Mann in Uniform, war mir selbst in meiner wildesten Zeit zu bedeutend. (Ich höre noch den Reim: „Zwischen Bullenhelm und Nasenbein, passt immer noch ein Pflasterstein“). Auch habe ich es, am Rand des Schwarzen Blocks, unterlassen „Nie wieder Deutschland“ zu schreien. Interessanterweise skandierten das meist diejenigen, die auch Israel anschwärzten und von der faschistischen Besatzung Palästinas faselten.

Mainzer Straße, Berlin 1990, kurz vor der Schlacht
Photo: Renate Hildebrandt

Ich sehe diese Reihe von linken Verlagen, in ihrer zufriedenen Saturiertheit, und ich muss an die Partei denken, in der mittlerweile die Antisemiten an Boden gewonnen haben, vereint unter dem Banner „Solidarität mit Palästina“. Und jene ostdeutschen Stalinisten, die ich damals kennen lernen durfte, die dem ABV hinterher trauerten und ihre Topfpflanzen in ausgelöffelte RAMA-Dosen stellten, die sind sicher auch noch nicht im Roten Himmel.
Mir schien das damals, 1995, schon obskur, aber ich war ja Mitglied in der Bezirksorganisation Kreuzberg (der erste Westbezirk, der über fünf Prozent kam), und dort hingen eben doch die Langhaarigen, die Revolutionäre und dergleichen rum. Jedenfalls solche, die ausschauten wie welche.
Als ich dann wegen der unaufgearbeiteten STASI-Verstrickung vieler Parteimitglieder austrat und anschließend in der Walpurgisnacht im Mauerpark (!) meinen Parteiausweis verbrannte, da wurde ich nicht mehr gegrüßt, von sicher der Hälfte der früheren Genossen.
Trotzdem habe ich mich immer als Linker gefühlt. Ich bin nur vom Syndikalismus über die Jahre in den Linkslibertärismus gerutscht. Ach, wenn ich zurückdenke: schwarzer Stern am Revers und jeden Tag eine Zeile Kropotkin oder Landauer. Pariser Commune, Spanische Republik, Räte in Baiern. Doch heute ist mir Mühsam als Bohemien näher. Und Landauer ebenfalls.
Das Problem mit dem Sozialismus jeglicher Couleur: man braucht Verwaltungseinheiten, und dort setzt sich dann Willkür und Korruption fest. Keine neue Erkenntnis.
Aber so wie es ist, so soll es auch nicht bleiben.

Es tut die Politik der Literatur nicht gut, wird sie von einem Dichter betrieben. Das musste ich hinter mir lassen, genauso wie die Malerei (die allerdings aus anderen Gründen).
Meine Güte, ich höre mich an wie ein Vierzigjähriger. Hoppla, tatsächlich, jetzt bin ich 41 Jahre alt und ohne Lebensunterhalt, stell eine Flasche kalt, und tue dem Reim Gewalt...
(Hat jemand das Zitat erkannt?)

Und was unterscheidet Melancholie von Ironie, wenn sie in meinem Kopf legieren?

In allen Messebeilagen der Journale werden Honeckers Notizen für seine Frau besprochen, im ND mit einem glühend historischen Blick, als wäre der Dachdecker nur abgetreten, und nicht auch der Staat, den er in den Abgrund trieb. In der ZEIT schreibt Maron eine konfuse Einlassung in Form eines persönlichen Berichts des Herrn H., die ich ausgesprochen unpassend und verniedlichend finde. Honeckers Geist: nicht zu fassen. Und mir kommt es merkwürdig vor, wie man sich überhaupt mit diesem fistelnden Wiesel des Sozialismus befassen kann, außerhalb der Geschichtsbücher. Das ist so weit entfernt. Glücklicherweise. Ich wäre sonst die letzten drei Tage im Garten gewesen und hätte mit meinem Sohn gespielt. Hinter der Mauer: die linken Verlage auf der Leipziger Messe.

Ich erinnere mich: wenn ich, der ich im Zonenrandbereich aufwuchs, mit meinem Vater an der Elbe war, nahe des Örtchens Bleckede, und wenn der Fluss Hochwasser hatte und über die Ufer trat, verbot mir mein Vater zu nah ans Wasser zu gehen, er sagte, es könnten Minen angeschwemmt worden sein, aus dem Osten. Oder wenn im Sommer dieser grünliche Schaum das Wasser hinab trieb, dann durfte ich nicht baden, denn das war, so sagten die Eltern, das Gift aus der CSSR (auch so ein Staatsname, den ich lange nicht mehr geschrieben habe).
Breschnews Augenbrauen am Abend im Fernseher. Oldtimer in Kuba. Hubschrauber über Kambodscha. Mehr war der Sozialismus für mich nicht, als ich ein Kind war. Die DDR war mir genauso weit entfernt wie Österreich. Nur Formen auf der Weltkugel, die neben dem Sofa meiner Großmutter in Hamburg stand.
Da gab es Rumpsteak mit Kräuterbutter und Geschichten über den Feuersturm in Hamburg, und darüber, wie mein Vater in den riesengroßen Reflektorenschüsseln der FLAG-Scheinwerfer über die Alster geschippert ist.

Deutsche Geschichte. Immer wieder schön.

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Jetzt blättere ich im Novitäten-Katalog des BOD-Dienstleisters. „Erlesene Köstlichkeiten“ – allein für das Wortspiel müsste man sie schlachten.
Eine erfrischende Lektüre, dieser Katalog (und für die Formulierung müsste man mich dann schlachten). Hunderte von seltsamen Büchern. Vanity Press. Und vielleicht ist auch ein interessantes darunter. Ich kann es nur leider nicht finden. Stattdessen: „Suche dein Glück, Martha – Die Tränen der Frauen salzen die Meere“ von Ina Borina. Oder: „Der Tod des Katzenläufers“ von Marc Dimmig. Oder: „Die Bärin Bärbel – und ihre Reise zu den Kuschlern“ von Peter Illing.
Ich kann ja verstehen, dass man an die Öffentlichkeit will, will ich ja auch, aber bitte nicht mir diesen Titeln.
Nur: ich hab gut Lachen. Hätte ich den gleichen Geltungsdrang gehabt und weniger Talent, wo wäre ich gelandet? Vermutlich dann doch beim handkopierten Privatdruck. Und ich hätte nicht einmal geringere Auflagen gehabt. (Schauder).  
Hunderte, nein, Tausende von Büchern, und ich habe noch nie eines auf dem Flohmarkt gesehen, oder in der Grabbelkiste des Trödlers an der Ecke. Diese Bücher fristen ein Dasein außerhalb jeglicher Wahrnehmung. All die Autoren müssen einen wohlwollenden Bekanntenkreis haben, der die geschenkten Exemplare niemals veräußert, oder sie haben eine dunkle Abstellkammer.
Und all diese Bücher sind mit ISBN-Nummern versehen. Müssten die dann nicht auch alle in der Nationalbibliothek in Frankfurt stehen? Mein Gott, bald wird denen dort nichts anderes übrig bleiben, als anzubauen.
BOD: 350.000 lieferbare Bestandstitel.

Und auch ich bin ein KUSCHLER.

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(Gestern die meisten Klicks seit Beginn dieses Blogs. Eine kleine Kontroverse auf Facebook und viele Photos, und schon schießen die Besucherzahlen nach oben).

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Sonntag, 18. März 2012

(Am Abend zuvor wieder Venus und Jupiter, dicht nebeneinander am Himmel, strahlend. Diese Zeichen am Firmament. Unheil. & auch die derzeitigen Sonnenstürme, die eine große Pestilenz bringen werden.)

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Früh am Morgen wieder raus zur Messe. Am angenehmsten ist es dort vor der regulären Öffnung, wenn die Gänge fast noch leer sind, die Luft noch nicht abgestanden, kaum Menschen unterwegs. Zuviele Menschen sind mir unangenehm. Die Menge, die Masse berauscht mich nicht mehr wie in jungen Jahren, sie beengt mich, bedrängt mich, macht mich zwanghaft, dünnhäutig, agressiv.
Und da kommen sie auch schon, die Messemassen, die Welle von Volk. Ich ziehe mich zurück in den Internetraum, den die Messeleitung den Ausstellern zur Verfügung gestellt hat, und der meist erfreulich leer ist. Bei Facebook wirft mir Richard Felix Duraj vor, der Blog sei selbstgefällig, zynisch und stilistisch eine Zumutung, auch würde ich mir keine Mühe geben, das wäre keinesfalls ein literarischer Blog. - Ich bin ja schon gewohnt, dass Duraj kein gutes Haar an was auch immer lässt, werde aber trotzdem zornig (der alte Autistenzorn, der von tief, tief aus mir hervor brodelt) und reagiere inadäquat mit mittelwüsten Beschimpfungen. (Was wiederum Johannes Frank belustigt und Connie Schmerle erschreckt; so verschieden sind die Gemüther).
Die Frage ist nur: hat Duraj recht? Lasse ich hier meinen Stil schleifen, anstatt ihn zu schleifen? (Ein blödes Wortspiel - ha, da sieht man es wieder, ich gebe mir einfach zu wenig Mühe). Ich muss darüber nachdenken.


Auf der Messe ansonsten nichts Neues, beim ARD-Stand mittlerweile ganz normale Leute, alles nur ein böser Traum.
Zur Mittagszeit sitze ich zusammen mit Julietta Fix und Johannes auf der Bühne der kleinen Verlage. Johannes liest aus seinem, größtenteils in Englisch geschriebenen, Israelbuch, ich die Übersetzungen, die teils von mir stammen. Das Mineralwasser, das uns die Messemitarbeiterin hinstellt, schmeckt scheußlich, ich habe selten so schlechtes Mineralwasser getrunken. Es macht einen rauen, pelzigen Mund, macht den Gaumen eher trocken, als dass es ihn anfeuchtet. Und es riecht nach nassem Hund.
Die Lesung läuft gut, doch das Publikum setzt sich aus nur knapp 20 Leuten zusammen. Die nachfolgende Lesung, der Auftritt zweier lustiger Schriftsteller aus dem Slam-Umfeld, ist eine Ansammlung von angestrengt lustigen Geschichten, aber das lockt 200 bis 300 Zuhörer an: so ist die Wirklichkeit. Da darf man auch mal primitiv in der Wortwahl werden, oder? Oder? Verfickt nochmal.

Walser


(Am späten Nachmittag dann zurück  nach Berlin und dort um Viertel nach Neun ins Bett. Bleierner Schlaf bis Acht Uhr morgens. Alpträume über Richard Felix Duraj).

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Samstag, 17. März 2012

Welche Zuhältervisagen am protzigen Stand der ARD rumlaufen, und zwar noch vor der Öffnung für den Publikumsverkehr, was für Visagen also auf diesem "Tele-Forum" in die Luft stieren, unglaublich. Auch Puffmütter dabei. So oder so ein Faszinosum, wie viele tumbe Gesichter man auf der Buchmesse sieht. Kein Gramm Grütze in der Schüssel, aber ein Auftreten, als hätten sie selbst und höchstpersönlich den Buchdruck erfunden, oder die Erstausgabe der Illias rausgebracht.
Eine mehr oder minder literaturlose Veranstaltung: Halle 2 gestopft voll mit Comics und Mangas, und den dazugehörigen, verkleideten Halbwüchsigen. Was hat das hier zu suchen? Ach ja, seit man den Scheiß Graphic Novel nennt, läuft auch Batman unter Literatur. Deshalb mittlerweile so viel Pöbel auf der Bookfair rumläuft und die Gänge verstopft.
Ähnliches sieht man ja mittlerweile ebenfalls in den Bibliotheken; seit die AGB einen Riesenhaufen DVDs in die Bestände genommen hat, macht sich dort der Mob breit. Was waren das für schöne Zeiten, als es in Bibliotheken so leise war, dass man lesen konnte.
Egal, Lyrik kaufen die ja seit mehr als zehn Jahren nicht mehr.

Dominik Ziller, Andrea Schmidt, Johannes Frank

Daniela Seel

Adrian Kasnitz

Christian Lux, Mathias Traxler


Am Abend dann noch mehr Lesungen, im Tapetenwerk. Kookbooks, Fixpoetry, Verlagshaus J. Frank. Schon vor den Ateliers, in denen gelesen wird, fast nur Berliner Dichter zu sehen. Eine merkwürdige Angewohnheit, sich in Leipzig gegenseitig zuzuhören, obwohl man sich ja erst letzte Woche in der Kneipe getroffen hat. Es wäre sinnvoller, eine kleine, unabhängige Buchmesse in Berlin zu veranstalten, dann könnten wir uns alle die Kosten für Fahrt und Übernachtung sparen.
Aber natürlich: das Familiäre ist eine schöne Sache, und im eigenen Empfinden wird Leipzig plötzlich ein Vorort von Berlin, insbesondere weil ganze Straßenzüge so ausschauen wie Prenzlauer Berg um 1995. Eine angenehme Stadt.

Crauss, Dominik Ziller, Max Czollek

Crauss


Oya Erdogan, Gerrit Wustmann

Später in ein Café in der Beethovenstraße, nahe des Deutschen Literaturinstituts, in dem bis in die Nacht eine bombastische Lyriklesung läuft, die wir uns eigentlich anschauen wollen. Aber völlig geschafft bleiben wir bei Suppe und Wein in diesem Café kleben. Und fahren dann schließlich in die Ferienwohnung zurück, die weit draußen liegt, in der sächsischen Einöde.

Johannes Frank

Swantje Lichtenstein, Crauss
 

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Freitag, 16. März 2012

Erster Tag. Nach einer Prüfung in der Humboldt-Universität am Morgen, die mich überraschender Weise ziemlich angestrengt hatte, vom Südkreuz aus mit dem Interconnex nach Leipzig.
Der Hauptbahnhof, wohl das schönste Bahnhofsgebäude der Republik, ist seit Jahren verschandelt von einer Einkaufspassage, die aus dem Kellergeschoss sich öffnend in die prächtige Vorhalle drängt. Die Bauplaner und Architekten, die das verschuldet haben, gehören ins Straflager.



Unten bei Subway steht das Proletariat um trockene Brötchen an. Eine Schlange, als hätten wir nicht 2012 sondern 1982, und als würde es dort Wrangler-Nietenhosen geben, nicht überteuerte, belegte Brote.



Am Abend die erste Lesung der Autoren des Verlagshaus J. Frank in der Galerie Artae. Kaum Publikum, außer eben den Kollegen, aber das verehelichte Inhaberpaar dieser Wohngalerie zum Ausgleich ausgesprochen charmant und gastfreundlich. In der Küche, hinter den Galerieräumen (in denen merkwürdige, leicht schrottige Trouvaillen von Thomas Kapielski gezeigt werden), in der Küche also gibt es selbstgemachte Kartoffelsuppe mit dicken Würstchenstücken die schmeckt, wie von meiner Mutter persönlich gekocht.
Dazu Weißwein und Wohnküchenseeligkeit. Das Baby Helene, Tochter der Galeristen, taxiert die Gäste. Eine Atmosphäre, wie ich sie ganz ähnlich schon einmal erlebt habe: Boheme, Prenzlauer Berg, frühe 90er (und die waren ja nur noch ein Abglanz der mythischen 80er).

Johannes Frank, Birgit Kreipe

Swantje Lichtenstein, Crauss

Crauss, Claudia Gehrke

Johannes Frank, Swantje Lichtenstein,
Alexander Graeff, Andrea Schmidt


Auf dem Klo der Galerie ein alter Spülkasten unter der Decke, mit Zugkette. So eine Wasserspülung habe ich das letzte Mal in meiner Kindheit gesehen. Es gibt vermutlich mittlerweile Kinder, vielleicht auch Jugendliche, die mit so einer Gerätschaft gar nichts mehr anzufangen wissen. So wie ihnen auch die Verbindung Cassette/Bleistift ein Rätsel bleiben wird.
Ich werde älter und fange an, Schnurren aus den Ardennen zu erzählen ("Als wir tapfer die Höhe 120 in der Leipziger Messehalle No. Fünf im Sturm nahmen, pfiffen uns die Kugeln der FAZ-Feuilletonisten um die Ohren. Aber wir haben nicht klein beigegeben. Nur immer feste druff").
Kriegsverletzungen glücklicherweise bisher keine. Davon abgesehen: ich mochte diese Spülkästen immer sehr gerne, die rauschten mit Schmackes.



Später noch eine Lesung in der temporären Lyrik-Buchhandlung. Max und ich lesen ab 23.30 Uhr, nachdem die Companeros von KOOKbooks den Laden geräumt haben. Trotzdem auch bei uns noch verblüffend viel Publikum.
Max Debutband ist großartig geworden. Verblüffemd wie man in dem Alter so gut schreiben kann, ich hab da noch größtenteils Grütze geschrieben, bestenfalls krudes Zeugs.


Am Ofen: Monika Rinck
Ganz vorne: Alexander Gumz

Dagmara Kraus

Ganz links: Norbert Lange
Am Ofen: Volker Sielaff

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Donnerstag, 15. März 2012

Eigentlich sollte man neben diesem öffentlichen Tagebuch noch zwei weitere führen. Zum einen eines über die intimen Details, die nicht öffentlichen Anekdoten, die despektierlichen Einlassungen der Freunde über den Literaturbetrieb (das alles handschriftlich in einer grünen Kladde), zum anderen eines in wirklich kryptischer Verschlüsselung, in dem die Dinge, Erlebnisse und Gedanken verzeichnet sind, die niemand über mich weiß, und auch niemals wissen soll (dieses dann in einem winzigen rostroten Heftlein, das man unter die Schreibtischschublade kleben könnte, oder in den Lampenschirm).

Mein Gott, sollte ich nochmal katholisch werden, der erste Beichtvater, dem ich ansichtig werden würde, hätte einiges an Überstunden abzuleisten. Aber ich werde maximal noch Protestant.

Warum also nicht alle drei Tagebücher in einem zusammenfassen und von Max Brod später verbrennen lassen? Weil ich früher so vorgegangen bin, Jahrzehnte lang, und herausgekommen ist nichts als ellenlanges Gejammere, kaum zu ertragen beim Wiederlesen.

Stattdessen also dieser mit Zierrat aufgemotzte Blog. Täglich zu führen, sofern mich das Kind nicht zum Wahnsinn und in den nervlichen Ruin treibt.

Tagebücher sind so oder so eine merkwürdige literarische Form, wenn sie von Literaten geschrieben werden. Aber ich lese sie mit Genuss, je älter ich werde um so genüsslicher. In den nächsten Tagen werde ich das gesamte, zwölfbändige Tagebuchwerk Helmut Kraussers gelesen haben – das, nebenbei gesagt, eine starke Antriebskraft war, meinen Kampf mit dieser Form, diesem Genre wieder aufzunehmen. Krausser ist ein größenwahnsinniger Irrer, aber vermutlich ist er es zu Recht. Ich halte ihn im Moment für den bedeutensten deutschen Prosaautor. Allein „Eros“ schlägt jeden einzelnen Roman, den ich aus dieser, meiner Generation in den letzten Jahren gelesen habe (das schließt leider meinen ersten Roman mit ein, wenn auch nicht den dritten, an dem ich gerade arbeite)

Interessant wäre es auch, einmal (dereinst) die Journale der Berliner Dichter nebeneinander zu lesen. Es würde sich (vermutlich) das Bild einer legendären Gemeinschaft entwickeln, vielleicht aber auch nur ein Panorama von Neid, Missgunst und Fehlurteilen. Oder eben mannigfaltiges Gejammere.

Die Berliner Dichter. Dieser großartige Kreis, der seit etwa fünfzehn Jahren existiert, anfänglich als Nukleus im Umkreis der lauter-niemand-Abende und des Vorlesezirkels Die Freuden des jungen Konverters. Jetzt ist das alles bei den jüngeren schon ein „Glanz der verlorenen Tage“. Und das war es ja auch: ein Glanz. Ist es immer noch.

Merkwürdig und schockierend – und eine Peinlichkeit für das gehirnberaubte deutsche Feuilleton – dass diese literarische Boheme in den ersten zehn Jahren nicht wahrgenommen wurde, heutzutage noch immer kaum vorkommt im Betrieb und in den Blättern. Dabei würde ich mich dazu hinreißen lassen zu sagen, dass diese lose Gruppe von Dichtern und Dichterinnen die wortmächtigste, dichterisch wichtigste Erscheinung seit dem deutschen Expressionismus ist – immerhin auch schon hundert Jahre her – und keinen schert es einen Deut.

Wir warten auf die Magisterarbeiten von 2112. Da werden dann auch die Tagebücher verglichen werden.

Was merkwürdig, sogar befremdlich war: vor zehn Jahren noch, war ich der einzige aus diesen Kreisen, der uns eine große Zukunft voraussagte. Die anderen erwiderten: Ja, Voß, da träumst du von.
Auch jetzt werden viele wieder nur zu sagen wissen: Magisterarbeiten über uns? In einhundert Jahren? Lächerlich!

Es werden nicht nur Magisterarbeiten sein.

Krausser (Photo: Elke Wetzig)

(Und morgen geht es nach Leipzig. Ich werde berichten. Und die Berichte, Depeschen, werden mit vielen Photographien illustriert sein. Wenn mir auch Kupferstiche lieber wären.)



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Mittwoch, 14. März 2012

Wie hat meine Mutter das nur geschafft? Allein mit zwei Kindern, zumindest die meiste Zeit allein, weil ihr Mann, unser Vater auf Tournee war, oder an einer weit entfernten Landesbühne. Nur alle zwei, drei Wochen kam er nach Hause, in die enge Wohnung, in der Engen Straße in Lüneburg. Ich war dann immer so aufgeregt, dass mir die Halsschlagader pochte. Ganz beunruhigt war ich von dem Pochen, so dass ich meine Mutter fragte, ob das ein böses Zeichen wäre, ein Hinweis auf eine schwere Krankheit, eine fiebergeschwängerte Influenza; und meine Mutter sagte: Nein, mein Junge, du freust dich nur, dass Papa bald da sein wird.
Also, wie hat meine Mutter das geschafft, die ganzen sechziger und siebziger Jahre hindurch, allein mit zwei Söhnen, der eine davon nicht gerade pflegeleicht?

Die anstrengenste Woche seit Jahren liegt hinter mir (deshalb ich auch nur an einem einzigen Tag dazu kam, diesen Blog weiterzuschreiben) – eine Woche allein mit meinem Sohn, sieben Tage Vater und Sohn. Ich liebe mein Kind sehr, aber jeden Tag drei Stunden LEGO und vier Stunden PLAYMOBIL spielen, Kind baden, anziehen, verköstigen (vorher Essen kochen, nachher Abwasch abwaschen), Spielplatz, Park, einkaufen gehen, vorlesen, malen, basteln.
Und damit wir uns nicht missverstehen, sonst beschäftige ich mich auch die Hälfte der Zeit mit meinem Kind, aber eben nur die Hälfte, für den Rest ist die Frau Mama zuständig (meistens etwas mehr als die Hälfte, wenn ich ehrlich bin). Die letzten Tage durfte ich nicht mal alleine auf den Balkon gehen, um eine zu rauchen, auch da wollte das Kind nicht selbsttätig spielen in seinem Zimmer, oder im Wohnzimmer, oder wo auch immer.
Ich habe schließlich alle meine guten Vorsätze sausen lassen und wollte ihn vor der Glotze parken, aber, O Schreck, wir haben ja gar keinen Fernseher. Also noch ein Buch vorlesen, und vierzehn PIXIS.

Wie hat meine Mutter das nur geschafft. Ich weiß es ja selber (selber, selber, lachen alle Kälber): FLORIAN, GEH RAUS, SPIELEN. Die Sonne scheint so schön. NEIN, FLORIAN, Mama will jetzt den STERN lesen. FLORIAN, WÜRDEST du bitte nicht hier spielen, geh doch in dein Zimmer. Ich ruf dich dann zum Essen. FLORIAN, NEIN!

Ach, herrliche Kaltschnäuzigkeit der Erziehung im Nachkriegszeitalter. Und geraucht hat meine Mutter natürlich in der Küche und im Kinderzimmer und niemals, niemals auf dem Balkon (wir hatten gar keinen).
Und wenn es zu viel wurde, hat sie geschrieen oder Depressionen bekommen. Oder noch ein halbes Päckchen ERNTE 23 im Wohnzimmer geraucht, oder mich vor der Glotze geparkt (Rappelkiste, manchmal  Das feuerrote Spielmobil - immerhin, halbwegs antiautoritäres Zeugs).

So hat meine Mutter das geschafft. Und was ist draus geworden: nichts Gutes, nichts Gutes.
Und deshalb bekomme ich am sechsten Tage lieber einen Nervenzusammenbruch und spiel danach noch eine Runde LEGO mit meinem Kinde.

Die LEGO-Dämonen wackeln schon durch meine Träume.



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Freitag, 9. März 2012

Adolf Hitler. Ich beginne den heutigen Eintrag mit „Adolf Hitler“, um die Leserschaft meines Blogs zu steigern. Denn alles was in Deutschland mit Adolf Hitler beginnt, steigert die Leserschaft. Und ich schiebe noch ein emphatisches „Jesus Christus“ hinterher. Bismarck! Friedrich der Große!

Christian Kracht hat in Zürich gelesen, las ich gerade bei SPIEGEL ONLINE. Vor lauter reichen Leuten, die ein Schnitzel bezahlen konnten. Ein Schnitzel für 48 Franken; das fand der Rezensent interessant.
Und dem Spiegel kommt Kracht ja nicht nur zu reich, sondern neuerdings auch vril zu braun vor, weil er es wagt über einen Lebensreformer zu schreiben, der um die vorletzte Jahrhundertwende herum in Kaiser-Wilhelm-Land lebte.
Es macht jemanden im deutschen Feuilleton offenbar schon zum NAZI, wenn man über das Kaiserreich und dessen ehemaligen Kolonien schreibt. Genau, der Kaiser war schuld.

Dabei muss man doch einfach nur Krachts „1979“ lesen, um zu begreifen, dass der Autor nichts für totalitäre Regime übrig zu haben scheint, wenn man auch eine gewisse Lustangst zwischen den Zeilen entdecken kann.

Mir sowieso ein Rätsel, wie manche Journalisten die gesamte (deutsche) Lebensreform-Bewegung für den ursprünglichen braunen Sumpf halten können. Sicher, der Herr Hitler war Teilzeit-Vegetarier (liebte bis zum bitteren Ende allerdings die Fleischklöpse seiner Leibköchin, wenn ich mich recht entsinne), aber er lief weder nackt über den Nürnberger Parteitag, noch tänzelte er durch Sonnenstrahlen und duzte jedermann. Auch sah er nicht gerade aus wie ein verfrühter Hippie.
Ich weiß ja schon, dass auch die Freicorps nach dem WK 1 sich zu einem größeren Teil aus der Wandervogel-Bewegung speiste, und die spätere SA wiederrum aus den Freicorps. Und es gab, lange verschwiegene, Verbindungsstrahlen zwischen dem sich esoterisch empfindenden Pack des Himmlerischen Ahnenerbes (et al) und verschiedenen obskuren Geheimbünden, die man an den Rand der Lebensreform-Bewegung einordnen könnte. Aber es gab ja auch Erich Mühsam (der – nota bene – ein bedeutenderer Bohemien als Literat war), es gab den Monte Verità. Die frühen Kommunen (inklusive Partnertausch), die Impfgegner, Sonnenmenschen, Hungerkünstler. Und es gab diese wirklichen Naturburschen, aus der Zeit gefallene Ökofreaks, die mit Schillerkragen und schulterlangen Haaren barfuß durchs Reich wanderten, um sich mit Landstreichern, Gaunern und Ausgestossenen zu verbünden.
Das waren die letzten Vaganten, die letzten Romantiker. Die letzten, die muttersprachlich Rotwelsch kauderwelschten. Leute wie Gusto Gräser. Das ist eine gute Tradition.

Auch wenn der SPIEGEL nur die Hitler-Fliege in der Sauerampfer-Suppe erkennen kann.

Gusto Gräser um 1910

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Mittwoch, 7. März 2012

Zum zweiten Frühstück eine Noodle-Mix-Suppe von MAMA. Mit extra Sambal Oelek, Soya-Sauce und Pindakaas. Frau im Urlaub, schon fangen die schlechten Essgewohnheiten wieder an. - Heute Nachmittag gehe ich mit Tristan zusammen in den Kaufland-Hypermarkt. In die Süßigkeiten-Abteilung.

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Kind schläft jetzt. Süßigkeiten sind gegessen. Vor mir ein paar römische Münzen. Wertlos. Ich erinnere, wie meine Eltern, vor allem mein Vater, früher von ihren Schätzen schwärmten. Ein Roh-Opal, der 1000 Mark wert sein sollte, so erzählte mein Vater es mir, als ich etwa sechs oder sieben Jahre alt war. Ein Anzahl von Silbermünzen, aus Holland, Deutschland und der Schweiz, die einen ganz hellen Klang hatten, wenn man sie auf den Tisch warf. Silber! Schätze! Echte Wajang-Puppen an den Wänden, verziert mit Blattgold. Blattgold!
Ich war ein Prinz, ich würde reich sein.
In Zeiten von ebay kann ich nun endlich überprüfen, was mein Erbe wert ist. Das Silber, das Blattgold, der Opal. Alles Silber: 50 Euro. Alle Wajang-Puppen mit Blattgold: 80 Euro. Daumengliedgroßer Roh-Opal: 5 Euro.

Ich bin reich.




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Dienstag, 6. März 2012

Der Abend gestern war sehr grün. Der Dichterstammtisch gut besetzt, auch wenn Eberhard nicht mehr zu uns fand, weil wir die Kneipe wechseln mussten; die sonst übliche hatte ohne Angabe von Gründen geschlossen. Stattdessen dann, wie in sehr alten Zeiten, im Heidelberger Krug getrunken (der mittlerweile wirklich unverschämte Preise hat - die Gentrifizierung Kreuzbergs...)
Woran liegt es eigentlich, dass Lyriker weitaus sozialer eingestellt sind als Prosaiker? Oder täuscht das? Wieviel Bier und Wein diese Dichter und Dichterinnen in den letzten 15 Jahren in sich reingegossen haben, in den verschiedensten Kneipen und Pinten, an den meist verschwommenen Tischen. Das fing an um 1995 im Kulturhaus Mitte (hieß das so? Ich bin mir nicht mehr sicher, das ist schon so ewig lang her), als bei "lauter niemand" sich verschiedene Freundes- und Bekanntenkreise bildeten, mischten, austauschten. Aber immer waren es: Lyriker. Obwohl dort (und an anderen Orten) ja auch Prosaautoren lasen, Bier tranken, sich unterhielten. Die haben aber keine Banden gebildet. Lyriker sind eben radikal und romantisch. Romantik! Die grüne Blume und die blaue Fee.



 Tea Kolbe, Max Czollek, Björn Kuhligk 

 Birgit Kreipe, Jan Skudlarek 

 Tristan Marquardt 

Tristan Marquardt 

 Max Czollek 

Ron Winkler 
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Montag, 5. März 2012

Händel. Die Suiten von 1733, gespielt von Edgar Krapp auf dem Nachbau eines Kirckman-Cembalos von 1787. Draußen Sonnenschein und der Geruch von Frühling, und hier drinnen diese Musik. Händels Clavierwerk ist mir in den letzten Jahren sehr ans Herz gewachsen, und ins Ohr hinein, ein Werk, das es ohne weiteres mit Bach aufnehmen kann, wenn es auch nicht so streng strukturiert, so eingängig und tiefgründig ist, wie das von Bach. Aber diese Mischung aus südlicher Weltzugewandtheit und nordischer Kühle: einmalig. Kaum zu glauben, dass es noch immer kaum Gesamtaufnahmen von diesen Suiten und Stücken gibt, die Krapp-Aufnahmen sind auch nach der Erstveröffentlichung zwischen 1978 und 1980 nie wieder als CD aufgelegt worden, dabei gehören sie zu den schönsten Interpretationen von Cembalomusik, die ich kenne.
Und draußen Sonnenschein, ein klares Gleißen, das sich im Gestrüpp der Lindenzweige verfängt. Kaum Menschen auf den Bürgersteigen. So könnte es am Vortag eines großen Krieges aussehen. Merkwürdig, wie das Bewußtsein für die Atombomben geschwunden ist im alten Europa. Es sind natürlich nicht mehr ganz so viele Pershing- und SS-20-Marschflugkörper in den Silos gelagert (oder ihre Nachfolger), aber immer noch genügend, um uns alle zu Staub zu machen, der über der flach geschlagenen Erde wehen würde.
Eine anderes Zeitalter: die 80er Jahre, vor dem großen Fall der Reiche, als ich jeden Abend mit der Vorstellung ins Bett ging, am nächsten Morgen nicht mehr zu erwachen, oder – noch schlimmer – aus dem Schlaf gerissen zu werden vom ABC-Alarm. Der niemals kam, den man aber doch immer, jeden Moment, als Geistermusik über der Stadt schweben hörte. Der einmal im Monat, am letzten Freitag um zwölf Uhr mittags, als Probealarm mir das Blut in den Adern stocken, den Schweiß in den Achselhöhlen perlen ließ.
Schon mit zwölf, dreizehn Jahren war mir klar geworden, dass die (West)-Mächte dieses heulende Schau- , nein, Hörspiel veranstalteten, um die zitternden Bürger und Bürgerssöhne in Angst und Schrecken zu halten, denn man hätte die Sirenen sicherlich auch ohne Ton auf ihre technische Unversehrtheit testen können. Stattdessen: das Heulen der Hölle. Und ich suchte am Himmel nach den schlanken, todesbringenden Minutemen-Raketen.
Und stellte mir die Apokalypse doch nur so pitoresk vor, wie ich sie in dem Film „Die Zeitmaschine“ gesehen hatte.
Nach 1989 wurde der regelmäßige Probealarm dann schnell wieder eingestellt – der Feind war ja besiegt. Der Feind trug ja Stone-washed-Jeans und wollte Obst und Westgeld.

Heute schlafe ich ruhiger, kann nur müde lächeln über die angebliche terroristische Bedrohung. Mein Gott, ja, manche U-Bahn-Fahrt wird zum Lottospiel, könnte vielleicht im ungünstigsten Falle zum Lottospiel werden, aber diese absolute Bedrohung des „Atomaren Holocausts“ (wie man das damals nannte – würde heute auch nicht mehr PC sein), die hat sich doch aus dem Bewusstsein verflüchtigt.
Aber letztlich gibt es eben doch noch genug von diesen Weltvernichtungswaffen. Sie schlafen nur, sie haben schlechte Träume. In den Bergen schlafen sie, wie die Siebenschläfer. Haben dort immer geschlafen, selbst zu der Zeit des Nato-Mannövers „Abble Archer“, 1983, als wir knapp vor dem atomaren Overkill standen, und das alle auch bemerkten, fühlten.
Ich behaupte: in diesem Jahr 1983, als in den Charts „I like Chopin“ von Gazebo gelistet wurde, gab es eine Abzweigung im System der Paralleluniversen, und dieser, nein, nicht Pfad, diese sechsspurige Autobahn führte in eine Welt aus Asche, mit einem ascheverhangenen Himmel, mit einer aschegesättigten, alles überspannenden Ebene.
Nochmal knapp davon gekommen. Auch eine Art von Gottesbeweis. Dass das nicht zugelassen wurde.

Hier Händel, Suite Nr. 2 G-Dur. Auch das wäre vernichtet worden. Nur die Sonne dort draußen nicht (wenn auch auf Jahre verdunkelt). Ich frage mich, ist Händels Musik eigentlich in der Raumsonde Voyager 1 mitgenommen worden, die die größten Kulturgüter der Menschheit mit an Bord hatte, auf einer goldenen Datenplatte, als sie unbemannt im Jahre 1977 startete, zur Zeit der Sex Pistols... ? (Ich habe bei Wikipedia nachgeschaut: Bach, Mozart, Beethoven. Aber weder Händel, noch Schubert, noch Schumann. Schade.)
Draußen zwitschern die Amseln, und die Spatzen, und die Blaumeisen. Keine Poseidon-Flugkörper am unschuldig blauen Himmel.



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Sonntag, 4. März 2012

(In der zweiten Stunde des Tages). Leider stößt man nicht zum Kern des Seins vor, wenn man betrunken ist. Und ich spreche nicht von: ein bisschen betrunken (dafür war allein schon E. verantwortlich, der mir gegenüber sitzend den ganzen Abend in einem Tempo Bierflaschen in sich hinein leerte, dass mir gar nichts anderes übrig blieb, als auch besoffen zu werden) . Aber für eines ist das Betrunken sein gut – alle Schichten von eingebildeten WILLEN fallen von einem ab, übrig bleibt nur noch ein Wesen, das zwar kaum noch tippen kann, das aber um so mehr ICH ist. (Nimm das, du Gehirnforscher). Es ist nur noch ein letzter Stummel von ICH da, aber dieser Stummel denkt für sich selbst.
Merkwürdig die Ansicht der zeitgenössischern Gehirnforscher, denn nichts als zeitgenössisch sind sie nur, merkwürdig kommen sie mir vor, in jeder Gehirnwindung, in der mein freier Wille hinterlegt ist. Sie stellen die falschen Fragen, diese Willensforscher, sie scheren sich nur um die letzten zehntausendsteln Sekunden zwischen Vorstellung und Handlung, und sie sagen dann („Sagen die Gelehreten“), dass ihre Messungen ergeben hätten, dass der neuronale Impuls der Handbewegung vor der willentlichen Entscheidung zur Handbewegung lag.
Schön, schön, das Gehirn-Gehirn hat entschieden, bevor das Gehirn-Ich davon wusste. (Aber welcher Gott, welcher Transmissionsriemen Gottes, oder welcher Transmissionsriemen ausserhalb der Geistesmaschine war es, der das Rad des Willens oder des Impulses bewegte?).

Kann ich nicht nur über die Willensfreiheit schreiben, indem ich meine Finger über die Tastatur huschen lasse, oder ist vielmehr mein ICH getrieben von den Ganglien, von den Botenstoffen in den Synapsen?
Gesetzt sei: Ich habe eine Zwangsneurose (nehmen wir das einfach einmal an), und diese Zwangsneurose zwingt mich zum Handeln. Ein klassisches Beispiel für einen unfreien Willen. – Wenn ich aber mich über das eigene MÜSSEN hinwegsetze, und zu einem WOLLEN komme (und das ist sehr gut möglich, wenn auch KRAFT dazu gehört), wenn ich also mit einem Teil von mir sage: Gott, ich müsste jetzt die Herdplatte überprüfen. – Aber wenn das, was ich ICH nennen würde entscheidet, ich verlasse die Wohnung, ohne in die Küche gegangen zu sein – wer spricht in mir dann? Könnte es jener Teil sein, der mit großer Mühe gegen diesen Zwang ankämpft, der also mit dieser Mühe, diesem Teil des ICHS, das altbekannte, das aus den tiefen des Unter- oder Überichs austräufelnde Ding, dass dieser Teil des Ichs erfolgreich ankämpft gegen etwas, was man Willenslosigkeit nennt... .. ?

Gehirnforscher: ihr müsst nachdenken, nicht nur Experimente machen, die von euren Gehirnen beeinflust werden (denn was seit ihr schon, außer ein menschgewordener Quanten-Zeno-Effekt...)
Gehirnforscher, wie könnt ihr über den Willen nachdenken, über das ich? Wie könnt ihr nur? Euer Gehirn ist viel zu klein, um ein Gehirn zu verstehen.
Sphärenklang: unbekannt.
Und von Gott gesprochen: vielleicht haben zum Beispiel die Epileptiker ein Tor in ihrem Bewußtsein, durch das Gott in den Menschen greift, um ihm ein Gefühl von ICH zu geben, vielleicht buchstabiert ein Zwangsneurotiker seine Persönlichkeit mit seinen Fingerkuppen auf die kalte Herdplatte, freien Willens, mit dem besten Blick auf die Wirklichkeit, die immer weiter fortschreitet, auch wenn die Uhr, ja, die Uhr, tickt.

Mein Sohn spielte am späten Vormittag mit Lego und dachte darüber nicht nach, war nur ein Junge, der mit Lego spielt, im Sonnenschein, der jetzt im anbrechenden Frühling schon früh in sein Zimmer fällt, ist ein Kind, das nicht nachdenkt, nur ICH ist, mit den Augen in die Welt schaut, wie er schon früh geschaut hat, der jetzt drei Jahre alt ist, der niemals weiter denkt, als bis zur nächsten Kinderüberraschung. Der aber doch nicht zum Supermarkt mitkommen will, der seine Kinderüberraschung gebracht haben will, der verharren will in der Unendlichkeit, in der Zeitlosigkeit seines ICHS. Im Sonnenschein des anbrechenden Frühlings.

ICH schreibe meinen Willen auf dieses Papier. Ich „Ich“. Will ich sein. Denke.



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Samstag, 3. März 2012

Bald Frühling. Vorgestern hat das neue Jahr begonnen. Doch der neue Kaiser, der Imperator Augustus, lässt auf sich warten. Stattdessen werden die griechischen Stadtstaaten ausgeplündert. Der Pöbel erhebt sich. Bald wird es ein Scherbengericht geben.

Der neue Roman ("Wermut") kommt schlecht voran, holpert so in den Hohlwegen meines Kopfes dahin, bleibt an jedem kleinen Meilenstein hängen. Ich denke den ganzen Tag, jeden Tag, über den Mittelteil nach, der mir jetzt bevorsteht. Geplant ist eine Mischung aus surrealer Höllenfahrt und einer Aventiure. Ein moderner Abenteuerroman, durchzogen von dem inneren Monolog des Protagonisten, sein Erinnerungsspeicher soll dicht bepackt sein. Viele Ratten, Kinderkreuzfahrer, atomare Einöden. Pestilenz und Plattenbauten.
Bislang ist es ein guter Text geworden, aber es soll letztendlich ein einzigartiger werden. Deshalb verharre ich  bei jedem Stolperstein, blinzele in die Landschaft hinein, werde geblendet von den Möglichkeiten, von der Sonne, aber weiß nicht weiter.
Manchmal allerdings muss ich mich nur kräftig besaufen, und wanke dann in die vielversprechenste Richtung fort.

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Freitag, 2. März 2012

Gerade las ich in der Morgenpost – die ich ab und an aus der Altstofftonne stehle – das ein deutscher Zahnarzt ins All fliegen wird. Im Jahr 2014 will das sich in Gründung befindende Raumfahrtunternehmen Space Expedition Curaçao den 39jährigen für knapp 70.000 Euro in den Weltenraum schießen.
O Gott, meine Kindheitsträume, sie werden alle wahr. Ich muss nur noch ein Buch richtig gut verkaufen, dann kann ich in die Leere, ausspannen bei Null Grad Kelvin. Ich erinnere mich, wie ich um 1980 auf dem – von meinem, nun auch schon seit sechs Jahren toten, Vater gezimmerten – Hochbett lag und SciFi-Romane aus der schwarzen Heyne-Taschenbuch-Reihe las. Der Mond war da zwar schon (vermutlich) erobert, Sternenstaub war zurück auf die Erde gebracht worden, aber das Spaceshuttle noch nicht abgestürzt, alle Hoffnungen nicht zu einem Feuer- und Trümmerregen geworden. Alles war strahlendes Sternenfahrer-Pathos, Science Fiction eben. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, dass ich irgendwann Passagier in einer Rakete sein könnte, Tourist im Kosmos, ich konnte mir nicht einmal vorstellen, dass ich das Jahr 2001 erleben würde, das Jahr von HAL 9000.
Und jetzt kostet das Ticket nicht einmal mehr den Gegenwert einer Doppelhaushälfte. Nur ein populäres Buch, Voß, nur eins, und du wirst in der Unendlichkeit schweben dürfen. Wirst auf den grünblauen Ball blicken, auf seinen Schimmelüberzug. Und dahinter das absolute Schwarz, ein Schwarz, wie du es nicht in deinen besten Gedichten beschreiben konntest. Und diese Vorstellung, ein Gedicht schreiben zu können über dieses Schwarz, das erste Weltraum-Gedicht der Menschheit, das aus einem realen Erfahrungsschatz schöpft, das wäre ein Triumph. (Hört sich das Größenwahnsinnig an? Egal.)
Und in deiner Kindergartentasche – die aus gelb lackiertem Leder – wirst du ein Pausenbrot haben und ein Netbook, das nur 99 Euro gekostet hat, das aber mehr Rechenleistung als der Bordcomputer der ersten Apollomission hat.

Vor einigen Wochen sah ich das Sequel des Kubrick-Films: „2011 – Das Jahr in dem wir Kontakt aufnehmen“. Und auch das haben wir schon hinter uns, das Jahr 2011, wenn auch nicht den Kontakt, kein mattschwarzer Monolith am Himmel, soweit ich weiß auch nicht in der Umlaufbahn von Jupiter. Keine Außerirdischen, nirgends, nie. Kein Signal. Schade.
Ich hätte so brennende Fragen zu stellen: Habt ihr Religionen, vielleicht gar nur eine einzige? Habt ihr einen Freien Willen, und wie ist es euch gelungen, den zu beweisen? Welche Musik hört ihr, und wenn ja welche, und hört sie sich an wie von Johann Sebastian Bach? Oder eher wie von Thomas Tallis?

Science Fiction all überall im All, und gleichwohl auf der Erden. Weltraumfahrten und Internet (und YouPorn). Und alle diese Zukunftsbewohner (die wir sind) leben noch immer in brüchigen Altbauwohnungen, haben keine oder schlecht bezahlte Jobs, tragen noch immer Kleidung, die aussieht wie aus dem Jahre 1984, kaufen noch immer bei Aldi, Penny und Lidl ein. Nur Netto ist neu.

(Und 1984 hieß Erika Mustermann noch „Renate“, geboren am 5. August 1958 in Bonn.)



Neben dem Raumfahrer-Artikel im Vermischten war die Schweinebauch-Anzeige eines Supermarkts abgedruckt: Ein Kilo Kiwis – 88 Cent.
Ich erinnere mich, am Ende meiner Kindheit aß ich meine erste Kiwi, (das erste Spaceshuttle mit Namen „Explorer“ war gerade gestartet), eine exotische Delikatesse. Meine Mutter (auch schon fünf Jahre tot) hatte zwei Stück, ich glaube, bei Penny gekauft, eine für meinen Bruder, eine für mich. Und jede einzelne hatte eine Mark gekostet. Sie schmeckte mir nicht besonders, aber ich kann mich noch gut an die Exklusivität dieser Frucht erinnern.
Berry, Milka Krokant, Milka Mandelsplitter, Rolo, Raider, Treets – wo seit ihr geblieben, seid ich in die Zukunft verschwand?

Ich habe einmal gelesen – vielleicht sogar in der phantastischen, aber deswegen schnell wieder eingestellten Zeitschrift OMNI – das die Astronauten, die Kosmonauten (und jetzt wohl auch die Taikonauten) davon berichteten, dass die seelenerschütternste Erfahrung die man machen kann, ein Aufenthalt im All ist, das Schweben außerhalb des Mutterleibs der Raumkapsel, das Schweben im Nichts; ein Mensch, der man selbst ist, umgeben von dieser Schwärze, von der wortbezwingenden Weite, die von allen n-zähligen Himmelsrichtungen auf einen einstürzt.

Und unter dir, nein, über dir, und neben dir, diese blau leuchtende Frucht im Sonnensystem, 88 Cent beim Hyperraum-Markt gleich um die Ecke. Das Band der Milchstraße eine glitzernde Auslage vor dem Tante-Emma-Laden Gottes.

70.000 Euro, Leute – klickt den Link rechts neben diesem Text an und kauft mein neues Buch, es müssen nur noch rund 69.000 Exemplare verkauft werden, dann kann ich mir das Ticket leisten. Das wird doch nicht so schwierig sein... .. .


(Und dazu „Cleopatra dreams on“ von Jeffrey Lee Pierce – auch schon lange tot. Und ich bin immer erkältet.)

(Mein Sohn wird dann sicher zu den Sternen reisen – Tristan, Ritter der Oortschen Wolke.)


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Von der Morgenpost gesprochen, vom Hauptstadt-Feuilleton gesprochen: unglaublich, in welch altbackenem Stil dort geschrieben wird. Fortwährend mit so ´nem Augenzwinkern (zwinker, zwinker), dass sich dem Leser bräsig an den Hals und die aus Salzteig gebackenen Gehirnwindungen wirft: Mein lieber, guter Leser, du verzeihst mir doch, dass ich keinen blassen Schimmer von der Materie habe, weil: wir verstehen uns auch so, in unserer minderbemittelten Rührseeligkeit.
Da hat die Rezensentin Gabriela Walde eine Künstlerin wiederentdeckt: Dodo, eine Zeichnerin der 20er und 30er Jahren, neusachlich, wie Frau Walde meint, dann nach England emigriert, wo sie unter anderem Postkarten entwarf. Aber wäre sie in der Hauptstadt der goldenen Zwanziger geblieben, hätte ihr die Regenbogen-Brücke zum künstlerischen Zenit offen gestanden, meint Frau Walde.
Auf der illustrierenden Abbildung sehe ich eine Frau und einen Mann, in abwehrender Umarmung. Dieses gezeichnet, wie für eine nette Zeitschrift der modernen Frau (aber mit großer Mühe, die Felsspalten der Liebe zu ergründen), ein zeichnerischer Abglanz von mondänem Stilwillen, ein Abklatsch Jeanne Mammens (die ja auch nur ein Abklatsch Hubbuchs und Schlichters war – oder tue ich ihr Unrecht?) – und das wird zur Zeit in der Kunstbibliothek am Kulturforum ausgestellt. – Woher kommt dieser Wille zum Mittelmaß in dieser Hauptstadt. Es gäbe so viel Gutes wieder zu entdecken. Stattdessen: leicht depressive Modezeichnerinnen.

(Ich werde mir die Ausstellung anschauen, und sollte ich Unrecht haben, werde ich Abbitte leisten.)

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Donnerstag, 1. März 2012

Gestern eine römische Münze bei ebay ersteigert. (Vermutlich) Constantius II - jahrzehntelang Kaiser des späten römischen Reichs, somit sind seine Bronzemünzen Massenware, werden einem heut noch nachgeworfen. Ein schönes Porträt zu sieben Euro. Rund 16oo Jahre alt. 50 Generationen. Kaum eine größere Party, würden sie alle in einem Saal stehen und saufen. Dennoch: 16oo Jahre. Äonen. Irreale Zeit. Schon in spätestens zwei Generationen werde ich Staub sein, und Seele, wenn das Universum verspricht, wonach es aussieht. (Die Sterne, Sternstraßen, die Galaxien und Galaxienhaufen, die Cluster von Galaxienhaufen - und ich unter einem anscheinend festen Himmelsdach, nahe einer Sonne auf dem Seitenarm-Ende einer abseitigen Galaxie).

Dann der Gedanke: vielleicht haben ja beide recht, die Theisten und die Atheisten... .. . Es wird gestorben, es verlischt, aber im letzten Moment, so zusammen geschrumpft wie ein (.) - dort gischtet das Leben an der Wand des Todes auf, verteilt sich ins Unendliche, wie eine überlichtschnelle Öllache auf dem schwarzen Asphalt des Sterbemoments, hinter dem nichts mehr kommt. Sozusagen der Tod als zeitverzögernde Droge.

Dann noch eine mit unbestimmbare griechische Münze mit einem Frauenporträt - schön so alte Dinge zu besitzen, so tote Frauen. Ich werde die beiden Münzen lose in der Hosentasche tragen, zwischen den Euro- und Centstücken. Vielleicht mische ich noch ein paar Mark drunter.

Von Mark gesprochen: seltsam wie viele Jahrhunderte das grundlegende Design des deutschen Geldes überdauert hat. Ein Scheidepfenning von 1742 sieht kaum anders aus als eine D-Mark.
Dann kam der Euro und eine völlig neue Ästethik. (Ich hätte ja vorgezogen, wenn das neue Geld TALER oder FRANKEN oder GULDEN gehießen hätte).




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