Donnerstag, 15. März 2012

Eigentlich sollte man neben diesem öffentlichen Tagebuch noch zwei weitere führen. Zum einen eines über die intimen Details, die nicht öffentlichen Anekdoten, die despektierlichen Einlassungen der Freunde über den Literaturbetrieb (das alles handschriftlich in einer grünen Kladde), zum anderen eines in wirklich kryptischer Verschlüsselung, in dem die Dinge, Erlebnisse und Gedanken verzeichnet sind, die niemand über mich weiß, und auch niemals wissen soll (dieses dann in einem winzigen rostroten Heftlein, das man unter die Schreibtischschublade kleben könnte, oder in den Lampenschirm).

Mein Gott, sollte ich nochmal katholisch werden, der erste Beichtvater, dem ich ansichtig werden würde, hätte einiges an Überstunden abzuleisten. Aber ich werde maximal noch Protestant.

Warum also nicht alle drei Tagebücher in einem zusammenfassen und von Max Brod später verbrennen lassen? Weil ich früher so vorgegangen bin, Jahrzehnte lang, und herausgekommen ist nichts als ellenlanges Gejammere, kaum zu ertragen beim Wiederlesen.

Stattdessen also dieser mit Zierrat aufgemotzte Blog. Täglich zu führen, sofern mich das Kind nicht zum Wahnsinn und in den nervlichen Ruin treibt.

Tagebücher sind so oder so eine merkwürdige literarische Form, wenn sie von Literaten geschrieben werden. Aber ich lese sie mit Genuss, je älter ich werde um so genüsslicher. In den nächsten Tagen werde ich das gesamte, zwölfbändige Tagebuchwerk Helmut Kraussers gelesen haben – das, nebenbei gesagt, eine starke Antriebskraft war, meinen Kampf mit dieser Form, diesem Genre wieder aufzunehmen. Krausser ist ein größenwahnsinniger Irrer, aber vermutlich ist er es zu Recht. Ich halte ihn im Moment für den bedeutensten deutschen Prosaautor. Allein „Eros“ schlägt jeden einzelnen Roman, den ich aus dieser, meiner Generation in den letzten Jahren gelesen habe (das schließt leider meinen ersten Roman mit ein, wenn auch nicht den dritten, an dem ich gerade arbeite)

Interessant wäre es auch, einmal (dereinst) die Journale der Berliner Dichter nebeneinander zu lesen. Es würde sich (vermutlich) das Bild einer legendären Gemeinschaft entwickeln, vielleicht aber auch nur ein Panorama von Neid, Missgunst und Fehlurteilen. Oder eben mannigfaltiges Gejammere.

Die Berliner Dichter. Dieser großartige Kreis, der seit etwa fünfzehn Jahren existiert, anfänglich als Nukleus im Umkreis der lauter-niemand-Abende und des Vorlesezirkels Die Freuden des jungen Konverters. Jetzt ist das alles bei den jüngeren schon ein „Glanz der verlorenen Tage“. Und das war es ja auch: ein Glanz. Ist es immer noch.

Merkwürdig und schockierend – und eine Peinlichkeit für das gehirnberaubte deutsche Feuilleton – dass diese literarische Boheme in den ersten zehn Jahren nicht wahrgenommen wurde, heutzutage noch immer kaum vorkommt im Betrieb und in den Blättern. Dabei würde ich mich dazu hinreißen lassen zu sagen, dass diese lose Gruppe von Dichtern und Dichterinnen die wortmächtigste, dichterisch wichtigste Erscheinung seit dem deutschen Expressionismus ist – immerhin auch schon hundert Jahre her – und keinen schert es einen Deut.

Wir warten auf die Magisterarbeiten von 2112. Da werden dann auch die Tagebücher verglichen werden.

Was merkwürdig, sogar befremdlich war: vor zehn Jahren noch, war ich der einzige aus diesen Kreisen, der uns eine große Zukunft voraussagte. Die anderen erwiderten: Ja, Voß, da träumst du von.
Auch jetzt werden viele wieder nur zu sagen wissen: Magisterarbeiten über uns? In einhundert Jahren? Lächerlich!

Es werden nicht nur Magisterarbeiten sein.

Krausser (Photo: Elke Wetzig)

(Und morgen geht es nach Leipzig. Ich werde berichten. Und die Berichte, Depeschen, werden mit vielen Photographien illustriert sein. Wenn mir auch Kupferstiche lieber wären.)



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