Montag, 5. März 2012

Händel. Die Suiten von 1733, gespielt von Edgar Krapp auf dem Nachbau eines Kirckman-Cembalos von 1787. Draußen Sonnenschein und der Geruch von Frühling, und hier drinnen diese Musik. Händels Clavierwerk ist mir in den letzten Jahren sehr ans Herz gewachsen, und ins Ohr hinein, ein Werk, das es ohne weiteres mit Bach aufnehmen kann, wenn es auch nicht so streng strukturiert, so eingängig und tiefgründig ist, wie das von Bach. Aber diese Mischung aus südlicher Weltzugewandtheit und nordischer Kühle: einmalig. Kaum zu glauben, dass es noch immer kaum Gesamtaufnahmen von diesen Suiten und Stücken gibt, die Krapp-Aufnahmen sind auch nach der Erstveröffentlichung zwischen 1978 und 1980 nie wieder als CD aufgelegt worden, dabei gehören sie zu den schönsten Interpretationen von Cembalomusik, die ich kenne.
Und draußen Sonnenschein, ein klares Gleißen, das sich im Gestrüpp der Lindenzweige verfängt. Kaum Menschen auf den Bürgersteigen. So könnte es am Vortag eines großen Krieges aussehen. Merkwürdig, wie das Bewußtsein für die Atombomben geschwunden ist im alten Europa. Es sind natürlich nicht mehr ganz so viele Pershing- und SS-20-Marschflugkörper in den Silos gelagert (oder ihre Nachfolger), aber immer noch genügend, um uns alle zu Staub zu machen, der über der flach geschlagenen Erde wehen würde.
Eine anderes Zeitalter: die 80er Jahre, vor dem großen Fall der Reiche, als ich jeden Abend mit der Vorstellung ins Bett ging, am nächsten Morgen nicht mehr zu erwachen, oder – noch schlimmer – aus dem Schlaf gerissen zu werden vom ABC-Alarm. Der niemals kam, den man aber doch immer, jeden Moment, als Geistermusik über der Stadt schweben hörte. Der einmal im Monat, am letzten Freitag um zwölf Uhr mittags, als Probealarm mir das Blut in den Adern stocken, den Schweiß in den Achselhöhlen perlen ließ.
Schon mit zwölf, dreizehn Jahren war mir klar geworden, dass die (West)-Mächte dieses heulende Schau- , nein, Hörspiel veranstalteten, um die zitternden Bürger und Bürgerssöhne in Angst und Schrecken zu halten, denn man hätte die Sirenen sicherlich auch ohne Ton auf ihre technische Unversehrtheit testen können. Stattdessen: das Heulen der Hölle. Und ich suchte am Himmel nach den schlanken, todesbringenden Minutemen-Raketen.
Und stellte mir die Apokalypse doch nur so pitoresk vor, wie ich sie in dem Film „Die Zeitmaschine“ gesehen hatte.
Nach 1989 wurde der regelmäßige Probealarm dann schnell wieder eingestellt – der Feind war ja besiegt. Der Feind trug ja Stone-washed-Jeans und wollte Obst und Westgeld.

Heute schlafe ich ruhiger, kann nur müde lächeln über die angebliche terroristische Bedrohung. Mein Gott, ja, manche U-Bahn-Fahrt wird zum Lottospiel, könnte vielleicht im ungünstigsten Falle zum Lottospiel werden, aber diese absolute Bedrohung des „Atomaren Holocausts“ (wie man das damals nannte – würde heute auch nicht mehr PC sein), die hat sich doch aus dem Bewusstsein verflüchtigt.
Aber letztlich gibt es eben doch noch genug von diesen Weltvernichtungswaffen. Sie schlafen nur, sie haben schlechte Träume. In den Bergen schlafen sie, wie die Siebenschläfer. Haben dort immer geschlafen, selbst zu der Zeit des Nato-Mannövers „Abble Archer“, 1983, als wir knapp vor dem atomaren Overkill standen, und das alle auch bemerkten, fühlten.
Ich behaupte: in diesem Jahr 1983, als in den Charts „I like Chopin“ von Gazebo gelistet wurde, gab es eine Abzweigung im System der Paralleluniversen, und dieser, nein, nicht Pfad, diese sechsspurige Autobahn führte in eine Welt aus Asche, mit einem ascheverhangenen Himmel, mit einer aschegesättigten, alles überspannenden Ebene.
Nochmal knapp davon gekommen. Auch eine Art von Gottesbeweis. Dass das nicht zugelassen wurde.

Hier Händel, Suite Nr. 2 G-Dur. Auch das wäre vernichtet worden. Nur die Sonne dort draußen nicht (wenn auch auf Jahre verdunkelt). Ich frage mich, ist Händels Musik eigentlich in der Raumsonde Voyager 1 mitgenommen worden, die die größten Kulturgüter der Menschheit mit an Bord hatte, auf einer goldenen Datenplatte, als sie unbemannt im Jahre 1977 startete, zur Zeit der Sex Pistols... ? (Ich habe bei Wikipedia nachgeschaut: Bach, Mozart, Beethoven. Aber weder Händel, noch Schubert, noch Schumann. Schade.)
Draußen zwitschern die Amseln, und die Spatzen, und die Blaumeisen. Keine Poseidon-Flugkörper am unschuldig blauen Himmel.



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