Samstag, 29. September 2012

Was ich mich immer gefragt habe: wieso weinen Kinder mehr als Erwachsene?
Ein Kind weint bei den verschiedensten Gelegenheiten, schämt sich nicht seiner Thränen, läßt sich von Schmerz, Trauer, Unlust, Zorn, von Neid, von Enttäuschung zum Weinen bringen.
Plötzlich aber, mit der sogenannten Pubertät, versiegen die Tränen fast ohne Übergang. Nun könnte man sagen, das sei eine Frage der Erziehung, aber wenn ich mich zurück erinnere, kann ich das nicht als Wahrheit erkennen. Vielmehr machte sich eine andere Art von Bewusstsein in meinem Selbst breit, das eben nicht mehr zu allen Anlässen weinte, das seither nur bei den großen Lebenskatastrophen verleitet war, Tränen zu vergießen. Und es scheint mir, als wäre das bei den anderen Menschen in meiner Welt nicht anders.
Ist das ein modernes Phänomen? Oder hat sich wenig geändert über die Jahrhunderte? Es schaut so aus, als würde es keinen Unterschied machen. Es weinen nur die Kinder. Und das ist ja auch eine gute Eigenschaft, denn das Weinen reinigt, zieht die Schleier des Zorns, des Neids, des Schmerzens beiseite.
Wieso also vergießt der ausgewachsene Mensch nur noch so wenig Tränen?
Ich kann mir keinen Reim darauf machen, nur dass dieser Bruch das größte Mysterium des Erwachsen werdens ist, daran besteht für mich kein Zweifel.

Wie oft habe ich als Kind geweint, auf der Kante meines Bettes sitzend, wie selten weine ich noch im Angesicht der Berge von Leid, die sich seitdem vor mir aufgetürmt haben.
Aber vielleicht ist die Antwort ganz einfach: ein Kind braucht Schutz, und nichts bringt die Erwachsenen mehr dazu ein Kind in Schutz vor all dem Leid zu nehmen, als eben das Weinen dieses Kindes. Als Erwachsener steht man dann alleine. Weinen ist nicht mehr nötig. Denn Schutz gibt es nicht mehr. Hinaus geworfen in das Leben, mit trockenen Augen, zurück gelassen in der Welt.

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Donnerstag, 27. September 2012

(Kurz nach 24 Uhr – immer diese Nachtgedanken. Es kommt mir vor, als wäre ich manchmal nur richtig zusammen gebaut, wenn die Dunkelheit sich senkt, und die Stille hinterher kippt, in einem langsamen Segelflug von den Klippen der Sprachlosigkeit)

Ich habe mehr und mehr das Bedürfnis im Verborgenen zu leben, ungehört, in leeren Räumen. Aber der Tag bricht doch immer wieder an. Kaum vorstellbar, dass die Zeit weiter fließt. Denn ich bin immer in dem selben Fluss. Ist das schon Satori, wenn der Kopf ganz und gar leer läuft?

Aber es ist nur das Alter, das in mich hinein greift und alles ausleert, bis auf die Erinnerungen. Geisterhaft ist all das Leben geworden, das sich verflüchtigt hat. Die 90er Jahre sind schon eine Erzählung für die Kinder geworden. Ich sitze im Halbdunkeln und höre Mazzy Star, und die Platten dieser Band liegen einen gleich langen Zeitraum zurück, wie die Platten von Velvet Underground, als ich sie zum ersten Mal hörte, in den frühen 80ern. Die kamen mir damals ganz historisch und ganz naheliegend vor.
Die Platten von Mazzy Star höre ich noch immer (die von den Velvets kaum noch), und es scheint mir, ich hätte sie gerade letztes Jahr gekauft, auch wenn die Nachwendezeit sich im Speicher meines Kopfes einfügt wie das Abbild einer Ära aus dem vergangenen Jahrhundert. Ja, aus dem vergangenen Jahrhundert.
(Der Dichter reißt die Augen auf und wispert mit schreckerfüllter Stimme): Wir werden alle, alle Sterben.
Bis dahin noch ein wenig Musik von Mazzy Star, immer wieder diese drei Platten. Denn sie haben leider nicht mehr aufgenommen, weil die Sängerin Hope Sandoval auch so eine Person war, die über Jahre hinweg in die Leere verschwand. Zwei Soloalben folgten noch und viel Stille. Dabei war diese Band, diese Sängerin, vermutlich das Beste, was in jenem Jahrzehnt zu hören war.
Ich erinnere mich, wie ich in der Junction Bar hinterm Tresen stand und Among my swan jeden Abend mehrmals auflegte. Draußen vor den Fenstern verschwand Kreuzberg in einer Explosion aus Nacht, und in der Bar war fast alles gut. Nach der Schicht gingen wir in den Keller und tanzten bis wir betrunken waren zur Musik von Tricky, Massive Attack und Portishead. Die Jahre waren ein schwach erleuchteter Fiebertraum. Es gab Drogen, Frauen und Nervenzusammenbrüche.
Es gab Kellerbars, Hinterzimmerbars, Dachbodenbars. Und immer war Nacht; in den Wintermonaten sah ich kein Tageslicht. Es war die Zeit, in der ich mir die Nacht angewöhnte. Gib mir noch einen Schuss Dunkelheit.

Alter Mann, geh Schlafen, keiner will das hören.




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Montag, 24. September 2012

(100ster Eintrag)

Im Radio eine verlogene Sendereihe über den Tod mit dem verlogenen Titel "Leben mit dem Tod".
Da lässt man Schulkinder berichten über ihren gelungenen Projekttag, der das Ableben behandelt. Da wird geredet von Hamstern und Omas. Und von Tanten im Altersheim. (Von Vettern im Turm).
Die Sprache in den Medien verdeckt die Dinge in einer Totalität, die man schon fast Lügen nennen möchte. Und wenn sie die Dinge nicht verdeckt, verdreckt sie sie.
Danach eine Ratgebersendung für Musiker: Wie nutze ich Facebook und Consorten zu Werbezwecken? - Der erste Tip: nicht nur Veranstaltungen posten, sondern auch mal eine Frage stellen. Ja! Wir werden alle zu Digital Natives, gleich morgen.
Und übermorgen dann wieder der Tod.
Nicht das er mir neu wäre, das es mir neu wäre, dass ich verschwinden werde, wie all die anderen  vor mir. Trotzdem packt mich täglich die nackte Panik, wenn ich an das Sterben des Ichs denke. Und ich könnte in Thränen ausbrechen, über all die Menschen, die dahin geschieden sind, verblichen, verweht in den Jahrhunderten, Jahrtausenden, Jahrhunderttausenden zuvor. Jeder einzelne, mit einem Universum aus Synapsen im Kopf. Alles Staub. Alles dahin. Keine Spur übrig. Vielleicht noch ein unleserlicher Taufeintrag im Kirchenregister, ein Grabstein vielleicht - doch meist sind die ja nach ein- zweihundert Jahren abgeräumt, die Daten mit dem Meißel ausgelöscht. Alles ist eitel.
Nur die, die sich einen Namen machten, sind als freundliche Geister noch unter uns. Catullus, Walther, Gryphius, Hölderlin.
Denn deshalb schreiben wir doch: um zu überleben. Damit unsere Namen nicht vergessen seien, wenn schon der Körper, wenn sogar (möglicherweise) das Ich wird sterben müssen.
Und wir sitzen im Turmzimmer und kritzeln die Blätter voll, schreiben Merkwürdigkeiten über Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Setzen unseren Namen darunter (der seltsam italienisch klingt), datieren: den 9ten März 1940.

Sein Zimmer, mit Blick in den Winter


Wieder und immer wieder lese ich Hölderlins späte Gedichte, die vermutlich nur so zu bannen vermögen, weil sie ein vermeintlich Irrsinniger geschrieben hat. Tübingen, im Turm. Draußen der zerrissene Himmel, das Gewimmel der Sterne, der gleiche Tag seit Jahrtausenden. Und immer präzise mit Datum versehen, die letzten Gelegenheitswerke.
Wenn man die späten Gedichte in einem Zug liest, fällt einem auf, fällt mir auf, dass einzelne Datierungen immer wiederkehren, über Jahre hinweg. Rund zwanzig Gedichte sind von Hölderlin/Scardanelli datiert worden, darunter allein vier mit dem 24. Mai 1748, drei mit dem 24. Mai 1758. Ein weiteres mit 24. Mai 1778. Auch der 24. Januar taucht auf, ebenso der 24. März, der 24. April.
Was hat das zu bedeuten? Was will Hölderlin mir mitteilen? Was ist geschehen am 24. Mai? Denn irgendetwas muss doch an diesem Tag geschehen sein, sonst würde man das Datum nicht immer wieder hinschreiben, über Jahre hinweg.
Ich kann zu dieser Frage im Netz nichts finden, in der Secundärliteratur auch nicht. Hat dort draußen jemand eine Idee? Wurde das alles bislang übersehen? (Kaum zu glauben).

Hölderlin, 1842


         Der Winter
       
         Das Feld ist kahl, auf ferner Höhe glänzet
         Der blaue Himmel nur, und wie die Pfade gehen,
         Erscheinet die Natur, als Einerlei, das Wehen
         Ist frisch, und die Natur von Helle nur umkränzet.
       
         Der Erde Stund ist sichtbar von dem Himmel
         Den ganzen Tag, in heller Nacht umgeben,
         Wenn hoch erscheint von Sternen das Gewimmel,
         Und geistiger das weit gedehnte Leben.

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Freitag, 21. September 2012

Können böse Menschen sympathisch sein?
Ich habe vor einigen Tagen ein Photo in einem Spiegel-Heft entdeckt, auf dem man den Diktator Kim Jong Un zu sehen bekam. Er spazierte mit seiner hübschen Ehefrau zusammen durch ein Spaß-Bad (!) in Nordkorea, die Männer in Badehosen winkten ihm begeistert (hier ist ein LINK zu einer anderen Aufnahme aus der Serie).
Für einen kurzen Moment, den Bruchteil einer Sekunde, bevor ich mir gewahr wurde, um wen es sich handelte, dachte ich: der hat aber ein nettes Lächeln, ein sympathisches Gesicht - was wohl auch durch den Gegensatz zu anderen Pressephotos von Kim verursacht sein könnte, denn üblicherweise wird er in den westlichen Medien feist, verschlossen und als undurchschaubar dargestellt.
Nun wirkte ja sein Vater in den letzten Jahren vor dem Ableben wie eine Mischung aus Wachsfigur und Chucky die Mörderpuppe, insofern ist der Sympathie-Vorsprung nicht gerade schwer. Trotzdem die Frage: kann ein Diktator ein netter Kerl sein (um Johannes Heesters zu zitieren)? Denn ein Diktator ist Kim ja ohne Zweifel, in einem Land, in dem nichts unversucht gelassen wurde, große Literatur in Realität umzusetzen. Selbst die in den Wohnungen fest installierten Radioempfänger lassen sich nur leiser stellen, nicht ausschalten, ganz wie in Orwells 1984.
Bei anderen Diktatoren muss man nicht lange nachdenken: Mussolini zum Beispiel sah aus wie ein soziopathischer Gassen-Schläger (mit Kontakten in Zuhälterkreise hinein). Gaddafi wirkte zum Schluss wie eine überschminkte, hasserfüllte Puffmutter und Saddam Hussein wie ein jovialer Totschläger und Folterknecht. Idi Amin sah nicht nur aus wie ein sadistischer Paranoiker.
Schwieriger wird es da schon bei Typen wie Pol Pot (wahrlich einem der größten Schlächter des vergangenen Jahrhunderts) oder Franco; beide wirken auf Photographien völlig farblos.

Hingegen die Verlierer der Geschichte sehen fast immer großherzig aus. Keiner schaute so sanftmütig wie Gustav Landauer, keiner so grüblerisch wie Kurt Eisner, keiner so gewitzt wie Erich Mühsam. (Wobei ich mir bei Karl Liebknecht zum Beispiel nicht so sicher bin, was Sanftmut und Großherzigkeit anbelangt. Allerdings wäre es mit ihm allemal besser geworden, schätze ich, als mit dem unsäglichen Stumpfkopf Thälmann).
Und diese Verlierer der Geschichte wirken auch noch auf den zweiten Blick, nach dem ersten Sekundenbruchteil, sympathisch. Kaum vorstellbar, dass Landauer Diktator geworden wäre.

Was soll ich nun aber von Kim Jong Un halten? Ist in seinem Gesicht etwas abzulesen, das darauf hindeutet, dass er der erste Clanchef in Nordkorea sein wird, der Reformen einleiten könnte, zwar sicher nicht die eines Gorbatschows, aber vielleicht die eines Deng Xiao Ping? Ich weiß es nicht. Aber wer weiß...

Gustav Landauer um 1910

Lebt Heesters eigentlich noch, fragte ich mich beim Schreiben dieser Zeilen und googelte kurz. Nein, ist schon fast ein Jahr lang unter der Erde. Hatte ich gar nicht mitbekommen. War da keine Staatstrauer? Flaggen auf Halbmast? - Wie auch immer; schon interessant, was man alles verpasst, wenn man kein Fernsehgerät besitzt. Die Realität schrumpft auf das Wesentliche zusammen. Unbedeutende Operettensänger bleiben dann ausgeklammert. Bald werde ich zu dem einen Prozent gehören, dass den Namen des Bundeskanzlers nicht kennt. Bundeskanzlerin? Ach, ja.
Früher hielt ich dieses eine Prozent immer für ungebildet und abgrundtief dumm, heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es sich nicht vielmehr um die wirklich Klugen handelt.

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Montag, 17. September 2012

Ein Sonntag im Volkspark Potsdam. Die letzten Spätsommer-Tage, und das Kind hatte mächtigen Spaß, während Meike und ich mit mittleren Erkältungen hinterher zockelten - ich war ja schon immer anfällig für Infekte, aber dieses Jahr sind es geradezu die sieben Plagen geworden. Das permanente Ausgelaugt sein hindert mich am Arbeiten. Dabei muss ich umgehend zwei Manuskripte fertig lektorieren.
Stattdessen schlapp in Potsdam. Auf verschiedenen Spielplätzen dort im Park, kurz vor der Rückfahrt auch noch bei den Riesenrutschen. Mördergeräte. Tristan traute sich eine der meterlangen Röhren runter zu fahren, während ich unten stand, um ihn aufzufangen (Meike oben, damit er die richtige Rutsche nahm). Mit schreckgeweitetem Blick kam er mir entgegen geschossen, unser beider Herzen machten einen Satz, dann raste er in meine Arme und fing an bitterlich zu weinen. Kinder-Spielgeräte in den Zeiten von Bungee-Jumping. Lebensgefährlich.

Später auf dem Parkplatz schaute ich in den grell blauen Himmel, auf die leuchtend grünen Hecken, und irgendetwas brachte das in mir zum Klingen. So einen Parkplatz schien ich schon einmal in meiner Kindheit gesehen zu haben. Ich stieg in den Fond des Wagens, und es war, als würden vorne meine Eltern Platz nehmen, die aufgeheizten Sitze nach Ernte 23 und aufgeheiztem Plastik riechen, das Meer weit entfernt rauschen, die Möwen kreischen.

Meine Frau startete den Motor und wir fuhren zurück in die Gegenwart, an prachtvollen Villen vorbei, russischen Holzhäusern mit geschnitzten Veranden, Schlössern, Parks, Sonnenschein.
Zu guter Letzt: Stau in Berlin.


Parkplätze haben sowieso immer eine merkwürdige Magie auf mich ausgeübt. Die weite Fläche, die stillen Autos, der große Himmel darüber. Meistens brennt in meiner Erinnerung die Sonne auf den Asphalt, ich komme mit Freunden aus einem Intermarché, und wir haben die Arme voller Weinflaschen und Zigarettenstangen (eine einzelne Packung Gitanes Mais in der Hosentasche), wir gehen zum Landrover und werfen einen Haufen Gauloises Blondes und Camel Filter in den Kofferraum, denn die Deutsch-Französische Grenze ist zum Badischen hin recht durchlässig geworden in letzter Zeit.
Oder auf dem Weg nach Berlin, über die Interzonen-Autobahn. Wir biegen mit irgendeinem geliehenen Golf auf den Parkplatz einer Raststätte (aus gelben Klinkersteinen, erbaut vermutlich noch in den 30er Jahren). Einzelne Wartburgs und Trabanten stehen in ordentlichen, aber löchrigen Reihen vor dem Gebäude, die kalte, klare Wintersonne lässt die Luft über der Betonfläche in einer Welle aus Licht aufschäumen.
Oder der Parkplatz in Scheveningen, direkt an den Dünen. Der feine Sand, der Geruch von Salz, der glänzende Wasserspender am Weg zum Strand. Möwen, Möwen, das Rollen der Dünung. Das Klopfen der Motoren.

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Samstag, 15. September 2012

Heute kam mein neues Brett (von Weible aus Ahorn und Palisander) nebst Staunton-Figuren. Ich will gar nicht sagen was das auf Ebay gekostet hat, aber viel war es nicht (das Bildungsbürgertum ist ausgestorben, solche Dinge werden nunmehr verschleudert). Und nun sitze ich vor dem Brett, spiele eine Großmeisterpartie Karpow-Kortschnoi aus dem Jahr 1974 nach (Kandidatenturnier zur Weltmeisterschaft), sitze auf Karpows Seite (weiß) und grübel nach dem zehnten Zug darüber nach, was Anatoli denn vor haben könnte.



- Ich glaube, Karpow wird seinen Turm-Bauern auf h5 ziehen und ihn damit mittelfristig opfern, während Kortschnoi seinen Springer sicher auf b4 zieht, um mit dem Turm angreifen zu können. Und was passiert? - In der Wirklichkeit des Jahres 1974 bringt Karpow erst mal seinen Läufer auf b3 in Sicherheit (was ich erst einen Zug später getan hätte, und vermutlich hätte mich das in die Bedrouille gebracht... wir werden sehen), und Kortschnoi öffnet die C-Linie für den Turm, wie ich es mir schon dachte, allerdings nicht mit Springer auf b4 sondern auf e5.

Dazu eine neue Schubert-Platte, die gestern mit der Post kam: Demus und Badura-Skoda spielen das zweihändige Werk Schuberts auf einem Streicher-Fortepiano von 1841. Seinerzeit in der großartigen BASF/Harmonia-Mundi-Reihe rausgekommen, in meiner Kindheit, als ich noch Dschingis Khan hörte.
Oje. Das ist hier aber eine heftige Simulation von Bildungsbürgertum. Gleich schreib ich noch ein Gedicht. Dabei bin ich in Hinterhöfen und Gassen aufgewachsen und gelesen habe ich am Liebsten Donald-Duck-Hefte und Enid-Blyton-Bücher. Allerdings habe ich damals schon gerne Django Reinhardt und Gisela May gehört (während die Eltern Rotwein in sich reinkippten und zu tanzen begannen).

Doch nun weiter im Spiel, ich muss Kortschnoi schlagen. Und im Hintergrund die Goldberg-Variationen, gespielt von Wilhelm Kempff, schnörkellos, makellos. (Und draußen tänzelt der Herbst durch die Straßen, er hat ein graues Trikot an, seine Choreographie patscht durch Pfützen, rutscht auf gelben Blättern entlang).

Kortschnoi gegen Karpow, 1978

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Donnerstag, 13. September 2012

Chess Titans, Level Fünf, Patt


Ja, ich weiß, besser wäre es gewesen, den König in Opposition zu bringen, somit den schwarzen König abzudrängen, um ihn schließlich mit der Dame mattzusetzen. Aber ich hatte Lust, mal ein Endspiel mit zwei Springern auszuprobieren, ins Besondere weil ich die Pferde zu häufig vernachlässige. Andererseits sollte man dem Elektronengehirn auf Stufe Fünf keine Gelegenheit geben, freiwillig ins Patt zu laufen. (Und im Mittelspiel stand ich echt bescheiden da, einer meiner Türme war weg nebst vier (!) Bauern, und ich hatte nur einen schwarzen Springer und zwei Bauern geschlagen. Aber wie man sieht, kann man sich auch da noch rauskämpfen).

Mittlerweile schreite ich so langsam aus dem unteren Amateurbereich raus, auch wenn mich der Mephisto Manhatten noch immer in jeder Partie zu Stücken haut. Doch ich lerne dazu, und es macht mir viel Spaß zum ersten Mal in meinem Leben strategisch Schach zu spielen. Die wenigen Partien, die ich in den 70er und 80er Jahren gespielt habe, waren ja mehr ein Reingehölze und Draufgehaue. Barbarenschach, sozusagen.
Jetzt erst fange ich an, mich für die Feinheiten des Spiels zu interessieren, wozu auch die Schachcomputer beitragen, die um Klassen eleganter spielen, als irgendwelche Kneipenhocker in Karlsruhe.

Ich studiere einiges an Schachliteratur, verliere täglich gegen Mephisto (komme somit Faust näher), warte auf mein neues Brett (Ahorn und Nussbaum), stöbere mit meinem Kindle im Schachportal von Wikipedea... und versuche meine ELO-Zahl einzuschätzen. Da Chess Titans etwa 1750 ELO hat, ein Anfänger im Allgemeinen auf 1000 ELO eingeschätzt wird, und weil ich ich das Programm auf mittlerem Level schlagen kann, würde ich schätzen, dass ich im Moment bei 1300 bis 1350 liege. Was nach etwas über einem Monat Schachspiel vermutlich gar nicht so übel ist. Spätestens Sylvester 2012 schlage ich den Geist im Gehäuse auch auf Level Zehn. Hab ich mir vorgenommen.

Jedenfalls macht mir das Spiel großen Spaß, es ist das erste Mal seit meiner Kindheit, dass ich so etwas wie ein richtiges Hobby habe. Ich denke schon darüber nach, in einen Schachverein einzutreten.
Aber woher soll ich die Zeit dafür nehmen? Ich muss Literatur machen! Vermutlich ist es lustiger, im nächsten Frühjahr mit den alten, unrasierten Gestalten in der Hasenheide zu spielen, die bei gutem Wetter an den angeschlagenen Schachtischen hinter dem kleinen Tierpark sitzen.
Ob man übers Netz deren durchschnittliche ELO-Zahlen heraus finden kann? Dann könnte ich einschätzen, ab wann ich mich dazu gesellen kann, und wie hoch meine Wetteinsätze sein dürfen.

Zum Schluß noch ein Bild von meinem neuen Schachcomputer, der mich wie erwähnt fast täglich fertig macht (denn er hat eine ELO um 1850), und den ich für zehn Euro bei Ebay geschossen habe.
Geradezu schockierend, wie wenig die alten Geräte aus den 80ern und 90ern mittlerweile kosten. Die meisten Hobbyspieler sind schon vor Jahren wenn nicht Jahrzehnten auf Schachprogramme für den PC umgestiegen, so dass Myriaden von Mephistos auf den Speichern verstauben. Keiner will sie mehr haben. Angebot und Nachfrage. Und so kommt es, dass ein Schachcomputer, der 1993 rund 200 Mark gekostet hat, jetzt für schlappe sechs Euro über den Tresen geht (nebst vier Euro Versand).
Nur die großen, edlen Profi-Modelle sind noch etwas wert, die mit magnetischer Eingabe, polierter Holzoberfläche, leistungsstarken Programmen. Der Rest ist Plunder. (Als nächstes hätte ich gerne einen Mephisto Monte Carlo).

Mephisto Manhatten

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Kierling bei Klosterneuburg, Sommer 1924


1.

Der Blutauswurf in kleinen Flecken
auf dem Schnee des Taschentuchs

Der Doktor in dem weißen Kittel
unter dem sich seine Rippen wölben

Ein Traumdeuter aus Wien
oder einer andren dunklen Stadt

hinter einem andren hellen Fluss
auf dem der Doktor seinen Nachen

gemächlich an das Ufer stakt
Auf den Brücken drehen sich die Schatten

Das Blut steigt langsam auf
in den Chitinflügeln der Lunge

Und draußen tanzt die Sonne eine Polka
zwischen Geländerstreben des Balkons

Die Sommervögel kreischen
Die Kurkapelle wälzt ihr Blechgestöhn

So blickt mein Ich auf mich und sagt
etwas vom Sommerbad, vom Wasser

Vom Bier, das ich mit meinem Vater trank
Sein Bauch im Wasser schwebend


2.

Kaum ein Junge war so klein
neben seinem riesenhaften, schweren Vater
der als Festung in dem Becken stand
der Badeanstalt am Ufer unsres Stroms
Und diese Biere, in zwei feuchten Gläsern
standen groß am Beckenrand und wollten
von uns beiden bald getrunken sein

Die aufgestobnen Wassertropfen glänzten
auf den Schultern der dunklen Badegäste
Entfernt konnt ich ein Schachspiel sehen
die weißen und die schwarzen Felder
am Beckenrand, entfernt von unsren Bieren
Der Himmel summte überm Glas der Moldau
Das Leben war nicht mehr zu sehen


3.

Ich sollte bald ertrunken sein
im Schatten der Mansarden-Räume
wo Schreibmaschinen mir dann tiefe
Lettern in die Hände hackten

Da lag das Fräulein Bürstner
der Rock war leicht verrutscht
und gab ein Stück der Beine frei
ganz weißes Fleisch im Schatten

Unter einer trüben Dachluke
schwebte ein Film aus Staub
die Sonnenstrahlen fächerten
die Einzelbilder auseinander

Auf der Staub-Leinwand
konnte ich den Rabbi sehen
wie er mit kantig großer Geste
das Aleph in den Lehm einschrieb

Konnte in dem Sonnenfächer
ganz neue Blitze schauen
Totenlicht und Leuchtspuren
überm stark gefurchten Boden

Zwischen den Holzplanken
taten sich die Schattenlöcher auf
und ich ertrank im Schlamm
am Grund der Gräben



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Dienstag, 11. September 2012

Gestern Abend dann die Premierenlesung der Georg-Heym-Anthologie (die man im Übrigen hier kaufen kann: Link), die sehr schön aber leider nur mittelmäßig besucht war. Die rund zwanzig Leute schienen aber angetan zu sein von den Gedichten Heyms, die an diesem Abend von Birgit, Björn, Friederike und Stephan erwidert wurden.
Im Anschluss vermutlich eines der letzten Male unterm Sternenhimmel in diesem Jahr, ab morgen soll es herbstlich werden. Die Nacht war lau, der Weißwein kühl, mein Kopf war längst zu Hause.

Friedericke Scheffler

Björn Kuhligk

Friedericke Scheffler

Friedericke Scheffler

Stephan Reich

Birgit Kreipe

Georg Leß

Stephan Reich, Georg Leß

Linus Westheuser

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Montag, 10. September 2012

Nachdem ich mich nun wochenlang mit zwei nagelneuen Notebooks rumgeärgert habe - zuerst einem Sony Vaio VPC, dann einem Acer - bin ich auf die großartige Idee gekommen, mir einen gebrauchten Laptop zu kaufen. Also habe ich bei Ebay für schlappe 200 Euro genau den PC ersteigert, den auch meine Frau besitzt, und auf dem ich die letzten vier Jahre ständig gearbeitet habe: einen Sony Vaio VGN mit altem Bildschirmformat.
Allein das habe ich bei den zwei zeitgenössischen Notebooks gehasst (die ich beide retournierte vor Ablauf der Zwei-Wochen-Frist), diese neue Bildschirmgröße, die nicht für's Arbeiten, sondern für Filme glotzen und Telespiele daddeln ausgelegt ist. Auch der Klang der neuen Geräte ist in erster Linie "Wrrruuuuum", und ebenso für die junge User-Generation geschaffen.
Was mich aber am Meisten schockiert hat ist, dass selbst die Lüftung in den neuen, teuren Geräten lauter war, als in dem vier Jahre alten Modell. - Und genau so eines besitze ich nun, und ich bin geradezu glücklich damit; wenn man denn Glück von einer Maschine gespendet bekommen kann.

Seit heute Nachmittag bin ich dabei, die Maschine optimal zu konfigurieren. Die Grafik der Oberflächen, die Farben, die Symbole auf der Taskleiste, Scroll-Geschwindigkeit, Besitzer-Namen (der Vorbesitzer hieß Willi). Dann Opera und Open Office laden (und noch Dies & Das). Auch die Oberflächen dieser Programme anpassen. (Was man mit Opera so alles machen kann; ich glaube, es gibt keinen anderen Browser mit einem so offenen System). Schließlich einen Desktoplink auf die Taskleiste legen. Fertig... für heute.

Aber das Beste war: als ich das Notebook zum ersten Mal hochfuhr, stellte ich fest, dass ein Windows-Office installiert war. Davon hatten die Vorbesitzer nichts geschrieben. So ein Glück, sonst hätte ich sicher mehr als 200 Euro gezahlt.

Davon abgesehen finde ich es immer wieder verblüffend, wie schnell die Preise von Hardware verfallen. Noch vor drei Jahren hat dieser Vaio 800 Euro gekostet (und das Windows-Office zusätzlich 280). Wieso benutzen die Leute ihre Maschinen nicht länger? Wenn man nicht gerade 3-D-Spiele zocken will, sind die neuen Kisten auch nicht viel schneller.

? : 42

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Sonntag, 9. September 2012

Vorgestern eine Lesung in der Z-Bar. Birgit Kreipe und Kerstin Preiwuß saßen auf dem Podium. Die Gedichte waren beeindruckend, die Veranstaltung war schlecht besucht (kaum zwanzig Leute; wo waren sie alle nur gewesen?), und ich war hundemüde. Offenbar noch immer diese unfassbare hartnäckige Sommergrippe. Wurde dem entsprechend ziemlich fix betrunken und ging früh.
Auf dem Weg durch die Nacht: Gedankenrauschen, leichter Regen, Paare und Passanten. Vielleicht ein oder zwei Schläger auf dem Grazer Platz.

Birgit Kreipe

Birgit Kreipe, Kerstin Preiwuß

Birgit Kreipe, Kerstin Preiwuß

Johannes Frank

Birgit Kreipe, Kerstin Preiwuß

Odile Kennel, Adrijana Bohocki
Björn Kuhligk

Adrijana Bohocki, Björn Kuhligk
Andrea Schmidt

Johanna Melzow

Johanna Melzow

Dominik Ziller, Johannes Frank

Andrea Schmidt, Jan Papenfuß

Die Nacht

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Donnerstag, 6. September 2012

Ich muss euch allen von einer literarischen Entdeckung erzählen, die ich in den letzten Tagen gemacht habe, ein – zumindest in Deutschland – fast vergessener Dichter der Französischen Romantik: Gerard de Nerval.
Ich lese gerade seine Novelle „Aurelia“, und ich kann es einfach nicht begreifen, dass dieses Stück Prosa schon im Jahr 1845 geschrieben sein soll. Das Ganze liest sich so unfassbar modern, dass es selbst die Surrealisten 80 Jahre später noch überflügelt, ganz zu schweigen von Lautreamont, Rimbaud oder Baudelaire.
Es beginnt mit einem Abschnitt, den ich erst vorgestern so hätte selbst schreiben können, wenn auch Nervals Stil hier eindeutig eleganter und stringenter ist: „Der Traum ist ein zweites Leben. Ich habe nie ohne zu schaudern durch die Elfenbein- oder Horntore dringen können, die uns von der unsichtbaren Welt scheiden. Die ersten Augenblicke des Schlafes sind das Bild des Todes. Eine nebelhafte Erstarrung ergreift unsern Gedanken, und wir können den genauen Augenblick nicht feststellen, wo das Ich in einer andern Form die Tätigkeit des Daseins fortsetzt. Ein ungewisses unterirdisches Gewölbe erhellt sich allmählich und aus dem Schatten der Nacht lösen sich in ernster Unbeweglichkeit die bleichen Figuren, welche den Vorhof der Ewigkeit bewohnen...“
Ist das nicht phantastisch zeitgenössisch für unsere Ära?
Ich bin ganz gebannt von dieser Prosa, von der ich zwar in früheren Jahren am Rande gehört, gelesen hatte, die ich aber nie zur Hand nahm, bis ich, ich berichtete bereits davon, demletzt ein Kindle kaufte. Vermutlich ist das der größte Vorteil eines E-Book-Readers, man liest plötzlich Bücher, die man vorher nicht aus dem Bibliotheksregal gezogen hätte, und man entdeckt völlig unbekannte Kontinente, einstmals erschlossenes, jetzt aber wieder von der grünen Hölle der Zeitläufte überwuchtetes Gebiet.
Und hinter einem Gestrüpp aus Kletterpflanzen und Farn hockt der irre kichernde Gerard de Nerval. In seiner Biographie kann man nachlesen, dass er dem Wahnsinn verfallen war, die letzten Jahre seines Lebens, auch zu der Zeit wahnhaft durch die Straßen lief, unter freiem Himmel nächtigte, als er seine „Aurelia“ schrieb.
Mir erscheint der Text jedoch, als hätte Nerval zwei, drei Pfeifen Opium oder ein großes Fläschchen Laudanum zu viel gehabt. Der Text ist ein Traum, eine Himmelfahrt in die Hölle (oder umgekehrt), eine Phantasmagorie, die sich durch Zeit und Raum windet. Ein unheimlicher Text, völlig aus der Zeit gefallen. Und so etwas großartiges wird vermutlich nur noch von Philologen studiert. Jammerschade.
Doch den Besitzern eines E-Book-Readers ist jetzt ganz schnell Abhilfe geschaffen, denn sie können sich das Werk kostenfrei auf Gutenberg.org laden: LINK
Eine von Hedwig Kubin hervorragend übersetzte Ausgabe, üppig illustriert von ihrem berühmten Ehemann Alfred. Leute, lest das, sofort. (Oder wie wir Digital Natives sagen: Lies! Das! Jetzt!)

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Zuvor, am Nachmittag, den ich durch das wilde Südgelände streifend verbrachte, kam mir der Gedanke an unser aller Greisenzeit.
Wenn unsere Generation erst einmal im Altenpflegeheim sitzt, so um das Jahr 2050 herum, dann wird sich einiges geändert haben. Plötzlich säuselt dort aus dem Gruppenraum nicht mehr deutscher Schlager, sondern Bauhaus und The Cure (wenn wir Glück haben – eher wohl aber Madonna und Simply Red).
Und all die Extrawürste aus Tofu, das kulinarische Verlangen der Vegetarier, Veganer, Fruktarier, Zöliakie-Patienten, Laktose-Verächter. Wireless Lan in jedem Zimmer, Kampf der Apple- und Microsoft-Jünger im Frühstückssaal. Jeden Abend eine SMS an den Tod (die Enkel werden fragen: Opa, was ist denn das, eine SMS, und was hast du da für ein komisches Gerät in der Hand? Ein Was? Ein Händi?)
Aufgemotzte Rollatoren, beige Freizeitanzüge von H&M (da sei Gott vor!), und einmal die Woche Körperpflege durch die freundliche Hilfskraft aus Usbekistan. Die aber nicht den ganzen Körper enthaaren wird, sie hat noch anderes zu tun; die Körperhaare werden wieder kräftig sprießen, nach über fünfzig Jahren zähen Kampfes gegen das Gestrüpp an Beinen, Bäuchen, unter den Achseln, zwischen den Augenbrauen. Zurück zur Natur durch Tatterigkeit.

Wir können die ersten Anzeichen für das Kommende schon am Kottbusser Tor betrachten, all die alkoholisierten Punks im Frührentner-Alter. Knitterige, zockelnde Mittfünfziger, deren Irokesen müde herab hängen. Noch immer in T-Shirts, Jeans und Lederjacken, die unter ihren alten Gesichtern wie Kinderkleidung aussehen. Dann schon lieber beige Freizeitanzüge von H&M (da sei Gott vor!)

Der irre Nerval, ungefähr 45 Jahre alt

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Mittwoch, 5. September 2012

Vielleicht hat die TBC dem Doktor Kafka aber auch sieben Jahre Lebenszeit geschenkt, und uns unter anderem "Das Schloss", "Ein Hungerkünstler" und "In der Strafkolonie", denn was wäre gewesen, wenn die Kranktheit 1917 nicht endgültig ausgebrochen wäre? Man hätte Franz K. an die Front geschickt.
Zwar war er in den ersten Jahren des Krieges noch als "unersetzliche Fachkraft" unabkömmlich gestellt - auf Bitten seines Vorgesetzten, und gegen seine eigene Intension - aber schon 1915 wurde er als militärisch "voll verwendungsfähig" eingestuft, und es hätte sicher nicht mehr lang gedauert bis zu seiner Einberufung, wäre er nicht 1917 so schwer erkrankt.
Also hat ihn die TBC möglicherweise vor dem Tod an der Front bewahrt.

Vielleicht aber hätte er auch in der Etappe, in einer Schreibstube dort, überlebt. Und danach den ersten großen Anti-Kriegsroman geschrieben. Möglich wäre auch gewesen: er wandert 1912 nach Palästina aus, das Klima dort unterstützt die Ausheilung seiner Lunge, er lebt in den nächsten Jahrzehnten in einem Kibbutz und publiziert bis zu seinem Tode 1975 acht sonnendurchtränkte, lebensbejahende Erzählungen. Letzteres allerdings ist schwer vorstellbar.

Oder er heiratet im November 1917 die schöne Tilka Reiß, die er ein Jahr zuvor kennen gelernt hat, zeugt vier Kinder (zwei Buben, zwei Mädchen; eine wird später die legendäre Malerin und Weltreisende Franziska Thylia Kafka-Blomstedt), seine TBC wird durch Spontanheilung kuriert (unterstützt durch den Magnetisieur und Spiritist Dr. Valboni-Eisenhans), die Familie emigriert 1935 in die Schweiz (zusammen mit Kafkas Schwestern), Franz bekommt 1938 den Nobelpreis für Literatur zugesprochen, und alle leben glücklich und zufrieden am Genfer See. Und wenn sie nicht gestorben sind...

Tilka Reiß, 1917

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Dienstag, 4. September 2012

Kafka. Ich beschäftige mich in letzter Zeit wieder intensiv mit Kafka.
Lese in seinem Band “Betrachtung”, durchstöbere Skizzen in seinen Oktavheften, traue mich nicht so recht an seine Romane, die ich in meiner Jugend alle abgebrochen habe (da es sich um Fragmente handelt, ist das ja auch nicht so schlimm - und hier bin ich fast verleitet, die feine Ironie zu kennzeichnen, die in diesem Land so schlecht verstanden wird).
Gerade las ich in einem Buch mit Anekdoten über Kafka (R. Stach: “Ist das Kafka?”) die Broskwa-Skizze, die mich sehr beeindruckt hat, und die ich Lust hätte weiterzuführen. Aber wäre das nicht völlig sakrosankt? Kafka fortschreiben? Ich würde geschlachtet werden vom Feuilleton, die Rezensenten würden mir einen Apfel in den Rücken werfen. Die Lektoren sowieso.
Zu der Broskwa-Skizze gibt es eine hübsche Geschichte. 2007 schickten die Macher der Literaturzeitschrift “Edit” diesen halbseitigen Text an vier bekannte Verlagslektoren. Die hatten viele, viele Verbessungsvorschläge… naja, vielleicht hätte Kafka ihnen zugestimmt, er war ja geradezu fanatisch selbstkritisch.

Ich erinnere mich nur vage des Zeitpunkts, an dem ich zum ersten Mal eine Erzählung Kafkas las. Es war “Das Urteil”, ich vermutlich elf oder zwölf Jahre alt und völlig ratlos, aber auch ergriffen. Die Szenerie in dem zwielichtigen Hinterzimmer, dann auf der Brücke, ging mir Jahre nicht mehr aus dem Kopf. Wenig später las ich “Die Verwandlung” und war hingerissen, gepackt und durchgeschüttelt. Die Landarzt-Prosa allerdings langweilte mich, und durch den Process konnte ich mich nicht durchkämpfen, wenn mich auch die Szene auf dem Speicher sehr beeindruckte, sie in meinen Träumen wiederkehrte.

Auf Kafka kam ich durch Gustav Meyrink (den ich mir justamente auf meinen Kindle geladen, nachdem ich ihn, im Gegensatz zu Kafka, rund dreißig Jahre nicht mehr gelesen habe; schon die ersten Zeilen des “Grünen Gesichts” kamen mir unheimlich vertraut vor), mein älterer Bruder hatte mir Romane des Phantasten geliehen, ich las sie mit großer Leidenschaft. In einem der Bücher war wohl eine kurze Biographie Meyrinks abgedruckt, dort erfuhr ich von Franz Kafka, fand später ein Fischer-Taschenbuch des Titels “Das Urteil” im väterlichen Bücherregal und begann zu lesen.
Ich glaube Kafka war der erste ernsthafte Literat, den ich las. Und losgelassen hat er mich nicht mehr.

Es ist merkwürdig. Obwohl ich seine Bücher Jahre nicht mehr hervor holte, hing doch fast immer ein Photo von ihm über meinem Schreibtisch (das Berliner Porträt von 1924).
Merkwürdig auch, dass ich mich Kafka schon immer geradezu persönlich nahe fühlte, schon als Kind und jetzt noch immer. Merkwürdig, weil Kafka scheu war, trotzdem ihn jeder leiden mochte (ich hingegen bin vorlaut, großkotzig, rechthaberisch). Er rauchte nicht, trank, von seinem letzten Jahr abgesehen, kaum einmal ein Bier, lebte Gesund, trieb Sport, ernährte sich gut - kurz: war ein agiler, freundlicher Mensch, der der Lebensreform-Bewegung zuneigte. (Wobei, zuneigen tue ich ihr auch, ins Besondere der des Monte Veritas, aber im wirklichen Leben trinke und rauche ich zu viel, schlafe unregelmäßig, esse nicht sonderlich ausgewogen).
Hätte ihn nicht die Schwindsucht dahin gerafft, wäre er sicherlich 80 oder 90 Jahre alt geworden, und vielleicht erst zu meinen Lebzeiten gestorben, 1973 zum Beispiel, hätte die Hippie-Bewegung mitbekommen, die Beatniks, Rock’n’Roller… Nazis. Ich befürchte, Kafka wäre 1939 in Berlin ansässig gewesen und auch dort geblieben. Doch vielleicht wäre auch sein alter zionistischer Wunsch durch die braune Pest verstärkt worden, und er hätte sich schon 1934 nach Haifa eingeschifft. Hoffentlich.

Ich bin nicht sicher, ob ich mich mit ihm gut verstanden hätte, aber es wäre schön gewesen, ihn kennen zu lernen.

Franz Kafka, Selbstporträt, vermutlich 1911

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Sonntag, 2. September 2012

Heute also die Solidaritäts-Kundgebung für Daniel Alter am Grazer Platz.
Meine Familie und ich gingen kurz nach zwölf Uhr los - ich hatte gebummelt - und als wir in die Rubensstraße einbogen, sahen wir schon die Menschen hinter die Kirche, hin zur großen Wiese strömen. Ich dachte erst, dass das wohl kaum möglich wäre, dass dies alles Besucher der Kundgebung seien. Aber sie waren es. Mehr als 1500 Menschen hatten sich auf dem Platz versammelt, die Redner waren kaum auf ihrer winzigen Tribüne zu sehen, verschwanden hinter der dicht gedrängten Masse von Menschen, waren nur unzureichend zu verstehen, weil die Veranstalter wohl nicht mit so einem Andrang gerechnet, die Technik nicht dafür ausgelegt hatten.
Auch ich hatte mit vielleicht 300, bestenfalls 500 Teilnehmern gerechnet. Und dann so ein Zeichen gegen Antisemitismus. Wenn man bedenkt, dass dieser Teil Friedenaus etwa 6000-7000 Einwohner hat, wären knapp ein Viertel des Kiez' auf der großen Wiese versammelt gewesen. Ich konnte meine Rührung kaum verbergen.

Zum Ende der Veranstaltung hin, sprach Rabbiner Alter ein paar Worte, voller Größe und Zuversicht. Gut, ihn als Nachbarn zu haben.
Fortwährender Beifall war zu hören, derweil mein Sohn und die Nachbarskinder durch die Menge wuselten und nach den Polizisten Ausschau hielten, die die Kundgebung absicherten. Derweil dünne Wolken über den Platz zogen, die Sonnenstrahlen durch die breiten Baumkronen fielen. Derweil ich nahezu die Hälfte der Nachbarn aus unserem Haus begrüßte.
Ich hoffe, dass Friedenau, dass der Dürerkiez an diesem Mittag Herrn Alter gefallen hat, dass er bleibt.

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Samstag, 1. September 2012

Tocktock macht der Tod

Egal, an welchem Tag ich sterbe
es wird ein Sonntag sein im Herbst
(der Boden noch recht locker aber schwer)
Zur letzten Tagesstunde gegen five o' clock
(der Tod trinkt duldsam seinen Fencheltee)
werd ich die Schuhe schnüren um den Hals

Es gab so viele Schuhe vor den Zeiten
als ich den Schaum der Welt durchtauchte
Der linke Schuh Rimbauds zum Beispiel
hielt bis zum letzten schweren Schritt
das faulig schwarze Bein zusammen

Die Holzpantoffeln von Van Gogh
die schlugen ihm den Schädel ein
damit der Geist frei unter Krähen kreisen konnte
Und Georg Trakls mürbe Stiefel stapften
durch grauen Matsch der sterbenden Soldaten

(Die Schuhe Doktor Benns standen ganz zaghaft
halb unterm Bett verborgen und sie knarzten nicht)
Und Schuhe gab es auch am Ende der Baracke
in dunklen Haufen, still und ausgekühlt

Egal, an welchem Tag ich sterbe
es wird ein fahler Sonntag sein im Herbst
an dem die Damen ihr strahlend weißes Lächeln
verschenken unter eisenharten Eibenbäumen
die vor dem Sterbehaus platziert sind

Und alle Krähen fliegen hoch
Und alle Finger fliegen hoch
damit es still am Tische wird
damit die Sonne kälter wird

(für Peter Maiwald)