Dienstag, 31. Juli 2012

Neue Notebooks sind nichts für halbe Autisten. Alles ändert sich, alles fühlt sich anders an. Die Tastatur klappert mit hohlerem Klang, das Trackpad ist strukturiert und reibt an den Fingerspitzen des Neurastenikers, die Farben sind zu grell und zu klar, als würden einem ein Tag am Meer aus dem Bildschirm entgegen schwappen.
Und alles will installiert sein, auch diese ganzen kleinen merkwürdigen Programme, die alle Nase lang um Zustimmung bitten for this & that.
Aber ich habe jetzt ein vernünftiges Schach im Speicher und eine Webcam vor der Nase. Kein schöner Anblick, wenn man gerade über Grundeinstellungen verzweifelt, die man das letzte Mal vor mehr als zehn Jahren gesehen hat, und die sich seitdem grundlegend verändert haben


Andererseits habe ich jetzt 500 Gigabyte im Trockenboden, aber was soll ich dort speichern? Videos von an Leinen wehenden Hemden und Hosen?
Es ist alles so komplex geworden, dass ich mehr oder minder mit Autopilot durch die Sicherheitsabfragen und Einstellungen segele. Es wird schon nicht so schlimm kommen, denn es kommt niemals so schlimm. Die Datenautobahn weist geradeaus in Richtung Utopia.
Früher war es mehr eine Landstraße, oder ein Feldweg. Mein erster Mikroprozessor steckte in einem Telespiel vom Bertelsmann-Buchclub. PONG für mich und meinen Bruder; mein Großvater musste extra dafür Mitglied werden, damit wir die Prämie kassieren konnten. Aber was hatten wir für einen Spaß: Teletennis, Eishockey, Squash. Mich faszinierte diese neue Welt so sehr, dass ich es fertig brachte, zwei, drei Stunden am Stück "Trainingswand" zu spielen.
Doch welch Herabsetzung dieser Sensation, als mein zweitbester Freund ein Jahr später eine Saba-Konsole bekam, mit Steckmodulen. Panzerschlacht! Barriere! Labyrinth! Was für phantastische Spielmöglichkeiten taten sich da in der abrockten Altbauwohnung des stolzen Thorstens auf. Wir verbrachten ganze Nachmittage vor dem Farbfernsehgerät seiner Eltern (ein Farbfernseher!), die sich auch am Sonntagnachmittag in Netzhemd und Negligé in die Kissen sinken ließen.
Auf der Glotze stand eine Lampe aus Nylonfäden, die an den Enden leuchteten, und der Hund fing ganz wahnsinnig an zu bellen, wenn die Hundetürglocke ertönte, die niemand außer dem ungewaschenen Köter hören konnte. Hochfrequenzschall.

Später kam dann andere, bessere Hardware. Atari, Mattel Intellivision, Colecovision. Dann der erste PC mit DOS (kann es sein, dass diese Kisten nur 384 MB Speicher hatten?), später ein Laptop mit Windows. Das erste Modem - dieses Pfeifen und Fiepen wird bald auch aus aller Leute Erinnerung verschwunden sein, dieses nervöse Rotwelsch der Platinen.

Und mittlerweile habe ich ein Schachprogramm auf meinem Notebook, das vermutlich mehr Speicherplatz verbracht als alle Geräte, die ich zwischen 1977 und 1997 besaß. Und dieses Schach ist nur ein kleines Gimmick. Viele User werden es deinstallieren, wegwerfen nach einmaligem Gebrauch, so wie auch früher die Gimmicks von Yps weggeworfen wurden.
Immerhin steht auf meinem Schreibtisch seit damals der Ritter mit der fliegenden Faust. Die Urzeitkrebse schwimmen auch noch irgendwo im Keller umher, und die Rose von Jericho warten in der Waschküche auf ein bisschen Feuchtigkeit.

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Montag, 30. Juli 2012

(Die Sommerpause ist hiermit beendet. Ich habe lange nicht mehr eine so zähe Zeit erlebt, in der ich dergleich wenig schrieb. Ich weiß, andere würden das bei sich als eine hochproduktive Phase wahrnehmen, für mich aber kamen die letzten Wochen einem Writer´s block nahe. Also jetzt: Reset und Neustart. Der Arbeitsspeicher ist zwar noch etwas heiß gelaufen und die Kühlung zickt, aber was hilft´s. Wie Rainald Goetz schon sagte: Don´t cry, work.)

Ich habe vor einigen Tagen wieder die späte Gedichte Hölderlins gelesen, aus der Scardanelli-Zeit, als er im Turm saß und die Welt nicht reinlassen wollte. Nur ab und an zwang ihm ein edler (oder wenig edler) Besucher, ein Gaffer des vermeintlichen Unglücks, eine Handschrift ab, ein Gedicht. Und Hölderlin schrieb über die Jahreszeiten. Über Jahrzehnte schrieb er immer wieder nur und ausschließlich über den Lauf von Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Ich hatte immer Zugangsschwierigkeiten bei des Dichters Poemen, mir fehlte das richtige Billet für seine hochgezüchteten, graezisierenden Hymnen und Oden, mit denen er heute noch die Philologen beglückt, als ich aber eines Tages die späten Gedichte las, die man in den frühen 90ern noch suchen musste, war ich hingerissen. Und fragte mich gleich, ob ich das nur sei, weil der arme Hölderlin mich in seinem Irresein so sehr faszinierte. Waren das denn wirklich gute Gedichte? War das nicht eine erbärmliche Zerfallserscheinung?
Ich las diese Arbeiten über die Zeit immer wieder, und gerade vorgestern lagen sie erneut eisklar vor mir: es gibt aus dem 19ten Jahrhundert keine anderen dieser Qualität. Kühl, sternennah, von einer metallenen Todesahnung durchzogen, mit einem Blick auf die Welt, der nicht mehr von der Welt ist. Große Kunst bis auf das Mark reduziert. Sicher auch aus einem in sich mäandernden Geist hervor gebracht, aber doch formvollendet.
Der brave Hölderlin, in seinem Turm im schrecklichen Tübingen, mit kurzen, in die Stirn gekämmten Haaren. Nach Façon der Mode ganz veraltet die Frisur. Dabei hatte er jenen revolutionären Schnitt getragen, der in Frankreich kurz nach 1789 kreiert wurde, der das Erkennungszeichen der Les Incroyables war, den Dandys der neuen französischen Zeitrechnung („7. Brumaire im Jahre III“). Man raffte den Zopf des verachteten Ancient regime über dem Kopf und kappte ihn mit einer groben Schere, so dass das Schädeldach nur noch Stoppeln trug und die restlichen Locken an den Schläfen hinab hingen. Auch Novalis trug seine Haare in diesem Stil. Fichte in jungen Jahren ebenso. Das waren alles Punkrocker der Frühromantik.
Und jetzt tappte Hölderlin voller Unrast in seinem Turmzimmer hin und her und hatte eine verspätete, bonapartische Frisur. Wie sie auch ein schmallippiger Chevalier hätte tragen können.

Hölderlin

Einer der Unglaublichen

Novalis

Währenddessen hier in meiner Kammer Chansons von Georges Brassens laufen. Ein parisblauer Abend könnte das heute sein. Draußen dickt die Nacht ein, und in die Oberfläche der Seine fädeln sich die Regenschnüre. In das Selbstmordwasser.
Hinten, jenseits der blechbezogenen Dächer, hustet der Eifelturm seine bonbonfarbenen Lichtkaskaden in den Konfettihimmel, eine Kooperation von Pissarro und Van Gogh (der alte Holländer).
Nein, nein, draußen wimmern nur Berliner Katzen, und der Himmel ist ganz und gar Rammstein und Udo Jürgens.

Brassens habe ich lange nicht mehr gehört, aber ich durchstöberte letzte Woche in einer schwarzen Nacht das Internet und fand ein paar Videos von ihm auf Youtube. Was für eine Gestalt, was für ein Held meiner frühen Berliner Jahre.
Ich hörte ihn zum ersten Mal auf dem Kassettenrecorder meines Bruders, in einer muffigen Wohnung nah des Südsterns. Ich war gerade aus der Provinz gekommen, und mein Bruder hatte mir nicht nur einen Lyrikreader der Freien Universität in die Hand gedrückt, in dem ich Grünbein fand, Happel, Kling, Rosenlöcher (Schneebier!), sondern mir auch Musik vorgestellt, die ich nicht kannte: Brassens, Vissotzky, Lewschenko.
Zusammen mit den Platten von Suicide, Wire, Charlie Parker, Schubert und Element of Crime wurde das mein Soundtrack für die Großstadt. (Fahrten in der U-Bahn unter den Resten der Mauer hindurch, echte Proletarier mit Flaschen voller Bärenquell – das Sternburg der Nachwendezeit).

Vielleicht sollte ich mir auch so eine Schnurbart stehen lassen, wenn ich mir schon nicht den Zopf absäbele wie Herr Hölderlin?
Aber damit sähe ich nicht wie ein französischer Chansonier aus, sondern eher wie ein missglückter Cowboy. Wobei: auszusehen wie ein missglückter Rinderhirte, wäre natürlich auch nicht schlecht.

Oder ein Vollbart, wie ihn sich Björn Kuhligk und Jan Kuhlbrodt gerade haben wachsen lassen. Aber das juckt ja fürchterlich. Nein, ich bleibe bei Koteletten. Für einen Bart bin ich zu romantisch. Ich bin glatt rasiert und incroyable. Diese Bärte sind so Gründerzeit.

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Samstag, 21. Juli 2012

Arm sind sie nicht, aber armseelig, diese Reichen hinter ihren Hecken und Mauern.
Ich musste die letzten Stunden oft an sie denken, nachdem ich eine Seite im Netz angeschaut hatte, auf der sich per Schnappschuss die Erbengemeinschaft der Ausbeuter präsentiert: LINK
Kaum zu glauben, dass es wirklich Spaß machen kann, seine Statussymbole auszustellen, Genuss daraus zu ziehen, dem finanziell verarmten Publikum den vergoldeten Arsch zu zeigen. Aber sie lächeln, sie haben ein Vergnügen gefunden. Sie schämen sich nicht.
Sie schüren mein unnötiges Mitleid, diese Reichen, aber natürlich faszinieren mich auch ihre Abbilder, denn in meiner Welt kommen sie niemals vorbei, kann ich sie nirgends sehen. Die Klassen sind mittlerweile so von einander separiert, dass mir - bis auf ein, zwei Erben - niemand einfallen würde, der mehr als ein Mittelklasse-Einkommen hat, sie sind entschwunden, sie nehmen nicht mehr teil, diese Reichen. Interessant ist auch, dass mir kein bedeutender, zeitgenössischer Schriftsteller aus dieser Gesellschaftsschicht bekannt ist. Sie scheinen allesamt zu verblöden an ihren Pools, in ihren Karossen, auf ihren Yachten. Nichts müssen sie mehr fürchten, keine Laterne, keine Steuern, kein einziges "Buh". Sie leben hinter verschlossenen Türen.

Sie erkennen die Welt nicht, gewinnen keine Erkenntnis, stehen neben den Dingen, nicht über ihnen. Können zwar auch die Photos des Planeten Erde betrachten, die sie wie ich im Netz finden, begreifen aber nicht die unglaubliche Perspektive, die diese Aufnahmen eröffnen.
Noch vor zweihundert Jahren war der höchste Blickpunkt der von einem Berg. Dann wurden Fesselballon und Photokamera erfunden, und der Blick weitete sich; das Felderflickenwerk wurde sichtbar, das Gewimmel der Vegetation, die Menschen in all ihrer Winzigkeit (Nadar schoss das erste nachweisbare Luftbild 1858). Später kamen höher schwebende Maschinen hinzu, Luftschiffe, Flugzeuge; bessere Kameras wurden gebaut. Aber immer noch war nur ein Ausschnitt der Welt zu sehen, bis dann endlich 1946 das erste künstliche Auge ins Weltall geschossen wurde (an Bord einer V2, die von der amerikanischen Basis White Sands aufstieg).
Wir konnten uns natürlich schon vorher vorstellen, wie der Erdball im Weltraum leuchtet, aber jetzt konnten wir es auch erkennen, zu einem Zeitpunkt, der nicht einmal fünfundzwanzig Jahre vor meiner Geburt lag.

Derweil die reichen Kinder Champagner saufen, der das gleich aussehende Etikett wie der von ALDI hat.

Nadar, Luftbild von Paris, 1858

James Wallace Black, Luftbild von Boston, 1860

Erstes sicher datiertes Luftbild aus Deutschland, Zehdenick 1887

Hugo vom Hagen, Luftbild von Berlin, um 1886


Die Erde von einer V2 aus photographiert, 1946

Das erste Panoramabild der Erde, 1948, ebenfalls von einer V2 aus

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Freitag, 20. Juli 2012

Nach einer durchsoffenen Nacht (zusammen mit Björn, Tom und einem Überschuss Weinbrand vom Spätkauf, zu dem wir von einer Vernissage in Neukölln Abstecher machten), hatte ich die heftigste Panikattacke meines Lebens.
Die Vernissage war gelaufen und ich nach Hause gegangen, schwankte durch die Nacht, kam an leeren Ecken vorbei, am Innsbrucker Platz, an dem mir eine Woche zuvor noch ein gleichgültiger Fuchs entgegen getrottet war, fand die Wohnung und trank dort weiter, derweil ich mir Videoclips mit Musik meiner Jugend im Internet anschaute.
Frau und Kind waren ja Zelten, ich zwar keine Dreißig mehr, aber fest davon überzeugt, dass ich die alten Unarten schon wegstecken würde. Dann geisterte ich zum Bett und fiel in einen so schwarzen Schlaf, dass ich mich nicht mehr an das Einschlafen erinnern konnte, als ich am nächsten Morgen mit ausgedörrten Gliedern und fremden Gehirn erwachte.
Schon im Badezimmerspiegel, der mir fröhlich entgegen leuchtete, konnte ich die Verschiebung des Selbst erkennen, Gummifilter vor der Kameralinse, wie in dem Fassbinder-Film „Angst vor der Angst“, den ich am Tag zuvor angefangen hatte zu schauen. Ein leichtes Kribbeln in den Armen, von dem übermäßigen Sauerstoff, den mir die Vorangst in die Lungenbläschen trieb. Und die alte Fremdheit.
Aber alles noch roger, no problemo, Companero. Bis dann die bekannte Panik, der tückische Freund, von der Mitte des Leibes durch die plötzlich auseinander gerissenen Fleischlappen eilte.
Ich konnte gerade noch ein Jackett überstreifen, die Schuhe an die nackten Füße binden und nach draußen taumeln. Währenddessen etwas in meinem Körper, in meinem Ätherleib, in dieser undefinierbaren Scheiße dort drinnen hoch brauste und mich besitzen wollte, spätestens vor der Haustür auf der Straße dann auch Besitz von mir ergriff.
Mein Gedanke war: Krankenhaus, es geht zu Ende. Über dem wirren Geist der Panik ein Rest von Ich, das abwägte, das sich abfand mit dem nun bald einsetzenden Herzinfarkt. Dabei war es ja keine Neuigkeit; Panikanfälle hatte ich seit meiner frühen Jugend immer wieder ertragen müssen, das war mir in das Selbst gegossen, ein meist ruhiger Tümpel, der ab und an zu blubbern begann. Doch die letzten Jahre war es besser geworden, durch Alter und Psychoanalyse. Durch eine wissend stoische Haltung, die mich befähigte, diese Panik, die alle paar Monate (manchmal auch alle paar Wochen) auftrat, über mich hinweg branden zu lassen. (A burst of sound. This can not be happened).
Aber heute war es anders, löschte jeden kritischen Verstand in mir aus. Als ich durch die gepflegte Gartenanlage des Krankenhauses stolperte, umfasste mich plötzlich etwas schweres, trübes, das mir den Oberkörper zusammen schnürte, ich kam kaum noch weiter, die Umwelt war aus Aspik, ich stöhnte auf, mit letztem Atem, und sah den Eingang zur Notaufnahme, wusste aber, dass ich dort nicht mehr hingelangen würde. Neben mir spazierte ein Patient an den Blumenbeeten entlang und ich stammelte „Ich brauche einen Arzt“. Er schaute mich an und sagte gleichgültig „Ich bin kein Arzt“.
Also trieb ich meinen Körper weiter voran, durch den Aspik der Luft, hin zur Rettungsstelle. Und kam dort an, endlich, mit letzter Kraft, klammerte mich am Empfangstresen fest und murmelte „Mein Herz“.
Ich wurde sofort in einen Raum mit fünf Liegen gebracht, die mit Vorhängen voneinander getrennt waren (wie in einem alten Film: Schwester kommt gleich und bringt Morphin gegen die Schmerzen der Schrapnellverletzung). Man klebte mir Wegwerfplättchen auf die schweißnasse Brust und schloss mich ans EKG an, nahm mir Blut ab, um die Cholesterin- und Leberwerte zu ermitteln, die im Falle eines Herzversagens üblicherweise vervielfacht sind.
Nichts geschah, mein Herz pochte wieder ruhiger, ich bekam Atem, und sagte Amen, lieber Gott, nur ein Panikanfall, danke, Herrscher der Welt. Ich bekam Atem.
Neben mir, hinter den dünnen Vorhängen, lagen zwei andere Männer. Der eine hatte von seiner Chipkarte, die wohl mit einem Tragbaren EKG verbunden war, wenige Stunden zuvor einen Herzalarm mittels Piepton angesagt bekommen. Der war aber ein falscher Alarm gewesen, so dass der Patient jetzt mit dem Arzt diskutierte, ob er nicht nach Hause gehen könne, er kenne das ja schon, sei nicht so schlimm, alles roger. Der Arzt stimmte ihm zu, nachdem er mit dem Herzspezialisten der Klinik telefoniert hatte.
Hinter dem rechten Vorhang lag ein Kandidat wie ich, dem nur die Panik ins Fleisch gestiegen war, und dem jetzt seine resolute Ehefrau Wasser brachte, ihm gut zuredete. Er hingegen sagte immer wieder, er würde sich so merkwürdig fühlen, er könne sich an gar nichts mehr erinnern, ihm sei ganz fremd geworden, sich und der Welt gegenüber. Die Frau beruhigte fortwährend, das wird schon wieder, das wird schon wieder. Und ich hatte keine Frau an meiner Seite, meine Familie war in der Uckermark, was mir ein Grund für die Attacke gewesen sein dürfte, denn man fliegt ruhiger in freundlicher Umgebung.

Ich lag dort noch Stunden, bis zum frühen Abend, und hin und wieder kam ein freundlicher Arzt vorbei, um mich nach meiner Vorgeschichte zu befragen. Ich gab an, dass diese Unpässlichkeit vermutlich doch nur ein Panikanfall sei, und die Lage entspannte sich. Ich lag in der Notaufnahme, der EKG-Monitor machte leise Bling, und ich fand die Ruhe wieder. Endlich ein bisschen Ruhe und Erholung. Nichts mehr zu tun und noch am Leben.
Gegen sechs Uhr wurde mein Nachbar auf die Psychatrische geschickt und ich nach Hause.
Draußen schien die Sonne, das Leben war noch da, die Finsternis umfing mich nicht mehr, und ich lief mit weichen Knien zum Supermarkt um Süßigkeiten zu kaufen.
Mein schönstes Ferienerlebnis.

Jetzt sitze ich hier in meiner Kammer, an meinem Sekretär, und schreibe das erste Mal seit dem Anfall. Noch sitzt mir die Erschöpfung in den Gliedern, aber alles fügt sich wieder in meinem Kopf zusammen. Wie fragil dieses Ich ist, wusste ich schon lange, aber es ist immer wieder eine große Geburtstagsüberraschung, das Platzen des inneren Ballons zu fühlen. Wahrzunehmen, dass alles zu Ende, wenn auch noch nicht ans Sterben geht, wahrzunehmen, wie alles, was ich als meine Identität empfinde, zerstieben kann, und nichts zurück bleibt, als ein weiches, halb zerquetschtes Tier, eine Minusgestalt.
Doch in dem Moment, in der die Welle bricht und mich unter sich begräbt, reißt etwas sich in mir hoch, zwischen den eng stehenden Schleusen der Panik, zwischen denen die Todeskraft entlang strudelt, reißt sich also etwas hoch auf den Vorsprung über meinem Bewusstsein, das so real ist, dass ich es als Nukleus meines Selbst erkennen muss. Kein Gefühl ist intensiv wie dieses, keines schlägt mich derart zurück in die Ursprünge meiner Person, hin in die elternfreie Wiege, in das Krankenhausbettchen, in die stille, sprachlose Nacht, zurück hinter die Schranke der Erinnerung.
Ironisch, dass mich das dort hinbringt, wo ich am wenigsten sein will, in ein Krankenhaus.
Aber die Zeit schreitet fort, Panther Reh, und nichts bleibt in den Händen als Staub zurück, nicht einmal die Hände kann ich Herrn Gryphius reichen. Nicht einmal Staub kann verwehen. Sekundenschlaf, Erinnerungsströme, Zeitverwirbelung. A burst of sound. This can not be happened…

Nach der Umarmung Pans dann eine stille Woche im Klischee. Bücher und Kräutertee. Korrespondenzen und Regen vor den Fenstern. Zwei Tage nach dem Ereignis bekam ich per Post meine neue Lesebrille, ein zwanzig Euro teures Modell eines Internethändlers, und endlich konnte ich wieder schnell und flüssig lesen. Was für eine Sensation, was für ein Vergnügen. Seitdem ein Buch nach dem anderen und das Verlangen nach einer noch stärkeren Brille.

Der Gott Pan

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Samstag, 14. Juli 2012

Vermutlich die wichtigste Band für mein Gehirn. (Ich wollte immer sein wie Alan Vega, bis ich ihn sah, 1991 im Quartier Latin, auf der Potsdamer Straße (jünger als ich jetzt) . Er kippte zehn Minuten nach Beginn von der Bühne. Besser als Beethoven.




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Freitag, 13. Juli 2012

(Frau und Kind sind gerade los gefahren, in die Uckermark, mit einem Zelt im Gepäck. Ich hoffe, dass es nicht allzu sehr regnet. Hier ist es fünf Minuten still geblieben, dann habe ich Cembalosuiten von Händel aufgelegt - die Sammlung von 1733, gespielt von Edgar Krapp auf einem Kirckman-Nachbau von 1787 - ich hoffe, die Nachbarn mögen Barock).

Gestern Nacht, als ich mich versuchte in den Schlaf hinein zu wälzen, aber ihn nicht finden konnte, dachte ich wieder einmal über den Tod nach, so wie ich es fast täglich tue. Und es kamen mir zwei Gedanken, für die ich nochmal aufstand, um sie niederzuschreiben:

Weil wir den Tod in Verbindung mit dem Schlaf setzen, und weil wir ob der geschlossenen Lider kurz vor dem Schlaf nichts als Schwärze sehen, glauben wir, dass der Tod Dunkelheit ist und Leere und Abwesenheit. Das ist aber nur eine durch Unwissenheit vorgegebene einspurige Assoziation. Es scheint mir, als sei die Angst vor dem Tod in der Angst vor dem Schlaf begründet und nicht umgekehrt. (Vielleicht spielt auch noch die Erinnerung an die Zeit im Mutterleib mit hinein).

Denn was soll kommen nach dem Tod, wenn nicht das Licht?
Wir können uns Gott als Körper vorstellen - dieser Körper mag das Universum sein, das All, oder noch alles darüber hinaus sich befindliche - und wir sind die denkenden Zellen dieses Leibs, die wie in einem Nervennetz ihre Gedanken zu dem Gehirn Gottes schicken, das klarerweise zudem selbst denkt, dessen Gedanken wir aber nicht fassen können, weil wir nur Sender sind. Erst nach dem Eintritt des Todes werden wir auch zu Empfängern sowohl der Gedanken Gottes, als auch der Gedanken aller anderen Zellen (die fleischliche Abschirmung fällt ja weg). Das ist wohl das, was man gemeinhin Noosphäre nennt.

Gott in Frankreich, 13tes Jhdt

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Mittwoch, 11. Juli 2012

Kafka war der größte Ladenhüter, den man sich denken kann. Von seinem ersten Buch "Betrachtung", erschienen Ende 1912 bei Rowohlt, und von Kurt Wolff herausgegeben, verkauften sich in den ersten fünf Jahren weniger als 400 Exemplare (meine Güte, da verkaufe ich ja mehr... fast), in einem Zeitraum, in dem Kafka nahezu sein Gesamtwerk publizierte. Von seinem Erstling also keine 100 Stück pro Jahr. Da haben aber einige nicht aufgepasst zu Zeiten der Moderne.

Doch es gibt natürlich eine Pointe, wie auch anders beim Kafka Franzl: welches war eines der teuersten Bücher des 20sten Jahrhunderts? Natürlich die "Betrachtung", 2001 im Antiquariat Wien für schlappe 18.500 DM verkauft. Und diese Ausgabe war nicht etwa signiert, nein, für einen Kafka mit Kaiser Wilhelm muss man schon etwas mehr anlegen; 2005 wurde eine signierte Ausgabe von "Der Heizer" (Kurt Wolff, Leipzig 1913) beim Auktionshaus Hauswedell Nolte für 45.657 Euro versteigert.

Für das Geld hätte Kafka drei bis vier Jahre weniger in der verhassten Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen arbeiten müssen.

Ach, ja, l´argent. Eine ewige Misere.
Im selben Jahr schrieb ein anderer KuK-Schriftsteller, nämlich Robert Musil, über das liebe Geld der Dichter:
Ein vom Publikum favorisierter Schriftsteller hat heute durchschnittlich das Einkommen eines Hoteldirektors, in ganz seltenen Fällen das eines nicht sehr gut gestellten Bankdirektors. Ein vom Publikum nicht favorisierter Schriftsteller hat das Einkommen eines Liftboys, in ganz seltenen Fällen das eines Bankdieners. Häufig bloß das eines Volontärs. Schuld an diesen Zuständen will niemand haben, nicht der Schriftsteller, nicht der Verleger und nicht das Publikum. Wie alle weitgreifenden wirtschaftlichen Konstellationen sind sie unpersönlich oder überpersönlich. Daß sie von größtem Einfluß auf das künstlerische Schaffen sind, ist sicher. Daß sie geändert werden müssen, ist sicher. Wie - darüber habe ich nicht nur kein Urteil, sondern kann auch keines mit Überzeugung äußern, weil ich auf Reisen bin und das redlich übertreibungslose Leben eines Nichtschriftstellers führe. 

Kafka Franzl

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Mittwoch, 11. Juli 2012

In der Stille zu leben ist nicht mehr möglich. Je älter ich werde, um so mehr umfasst mich das Leben, mit all seinem Lärm. Ich hoffe auf das Alter, und dass die Geräusche des Lebens absterben werden.

Heute einige Entwürfe zum vierten Roman zu Papier gebracht. Dann noch ein Gedicht geschrieben und festgestellt, dass ich wohl Romancier geworden bin. Wo ist das hin? Die Lyrik. Vermutlich ist sie hier in diesem Blog versickert.

Und ich bin ganz kraftlos. Die KITA des Kindes hat seit zwei Wochen eine Ferienschließzeit. Die letzte Energie fließt in die Prosaarbeiten. In die fröhliche Frohn. Der Blog muss warten. - Stattdessen als Pausenbild eine Reklameanzeige, die ich in einem Spiegel von 1976 fand. Ich dachte zuerst, es sei eine Bierwerbung:

Holsten knallt am dollsten

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Mittwoch, 4. Juli 2012

Ich fühle mich so müde wie ein alter Mann. Der Schlaf war kurz, die Maßnahme hat mein Gehirn durch Nichtbenutzung abgenutzt, und auch zum Arbeiten bin ich nicht gekommen. Ich war nicht einmal motiviert Gedichte zu lesen.
An solchen Tagen, wenn ich in diesen großen Ordner eingeheftet werde, der sich Realität nennt, wenn dieser große Ordner mich in die Irrenanstalt des wirklichen Lebens einweist, in der es nichts zu tun gibt, außer zu warten und das Gehirn gut zu lüften, immer dann wird mir klar, wie grau und grauenhaft die meisten Leben sein müssen. Wenn der Mensch nichts zu tun hat, dann flieht er dem Fernseher entgegen, der noch nicht einmal das Selbst aufsaugen kann, denn das hat die Langeweile schon ausgelöffelt.
An Tagen wie diesen wird mir deutlich, wie privilegiert ich eigentlich bin, mit all der Arbeit die mich erfüllt, die mich ausfüllt (und mit der ich mich abfülle), wie schrecklich es sein muss, arbeitslos zu sein. (Wobei die anderen, mit denen ich in jenem ausgekeimten Raum mit fleckiger Auslegware saß, sich tapfer hielten, selbst die, die sich schon vor langer Zeit aufgegeben haben, saßen dort ihre Stunden ab, obwohl es ja ein Leichtes gewesen wäre, von einem gutwilligen Arzt ein Attest zu bekommen, das von der Orientierungs- und Aktivierungsmaßnahme entbinden würde, und sei es nur durch einen vorgetäuschten Schnupfen. Aber, nein, sie schlagen auf um acht Uhr morgens und lernen tagelang, wie man eine Bewerbungsmappe gestaltet).

Am Nachmittag erwartete mich dann ein Umschlag auf dem Schreibtisch: das Freigabeexemplar der Georg-Heym-Anthologie „Ich bin von dem grauen Elend zerfressen“ war aus der Druckerei gekommen, und nun hielt ich es in den Händen, den Rucksack mit meiner Frühstücksbox und der Wasserflasche noch auf dem Rücken. Meine erste Herausgabe! Wenn ich nicht so müde gewesen wäre, hätte ich mich unbändig gefreut. So freute ich mich auch, aber etwas verhaltener und in dem Wissen, dass Schlafentzug präzise die Erinnerung löscht; Opfer von Unfällen und Verbrechen wird heutzutage empfohlen, die Nacht nach der Tat oder dem Geschehen nicht zu schlafen, dann würde sich die traumatische Erinnerung schwächer einprägen.

Doch jetzt gerade liegt der Band wieder neben mir auf dem Schreibtisch, und morgen wird er auch noch dort liegen, und am Wochenende. Und am Wochenende werde ich ausgeschlafen sein. Ich werde mich erinnern können.
Und ihr dort draußen müsst das Buch alle, alle kaufen. Denn es ist ein phantastisches Buch geworden, eine Anthologie zum 100sten Todestag Georg Heyms. Mit dreißig Gedichten von ihm, die von dreißig zeitgenössischen Dichterinnen und Dichtern erwidert wurden, so von zum Beispiel Max Czollek, Stephan Reich, Birgit Kreipe, Jinn Pogy, Hendrik Jackson, Jan Wagner, Björn Kuhligk, Tom Schulz und Katharina Schultens.
Und hier ist der Link zum Verlag: Lyrikedition 2000. Und so sieht es aus:


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Dienstag, 3. Juli 2012

Wieder saßen die Dichter an einem Kneipentisch in Kreuzberg. Und tranken zu viel. Ich versuchte mit der schlechten Kamera zu knipsen, aber keine Dichterin und kein Dichter wollte sich an diesem Abend ablichten lassen. Sind sie alle nur schüchtern geworden mit den Jahren, oder sind es die Jahre selbst, die sie davor zurück schrecken lassen?
Die Dichter sind Wilde, sie sitzen in einem Kreuzberger Kraal und wollen nicht photographiert werden, denn sie fürchten, dass dieser kleine, merkwürdige Apparat ihre Seele stehlen, zugleich mit ihrem Abbild ihr Selbst aufsaugen könnte.
Stattdessen wurde ich abgelichtet, meine Seele saß fest an ihrem angestammten Ort, zwischen den Muskelfasern meines Herzens.

Florian Voß


Später bleischwerer Schlaf, wie die heiligen zwei Georgs schreiben würden, wären sie nicht in allertiefsten Schlaf verfallen. Dann mit den Vögelein aus dem Bett und frischem Muts zur Maßnahme, weil das Jobcenter mich natürlich doch noch gekriegt hatte. Verblüffend, wie schnell diese Sachbearbeiter plötzlich reagieren konnten, als es um die erfreulichen Dinge des Lebens ging; keine drei Tage nachdem ich bei der ersten Maßnahme fort geschickt worden war, kam mit schnellem Boten (nein, es war nicht der des Herrn Nicolas Berggruen) eine Aufforderung ins Haus geflattert, dass ich mich in fünf Tagen in einem Seitengebäude des Ullsteinhauses einzufinden habe.

Und hier sitze ich nun, in einem leeren Computerraum ohne Netzwerkverbindung, und ich schaue aus dem Fenster und betrachte eine Weile ein begrüntes Vordach, eine kleine Wildnis, die lange nicht mehr zurecht gestutzt worden ist. Hohe Gräser flattern im Abluftwind eines Lüfttungsschachts. Auch dichtes, weiches Moos wächst dort. Ein paar Waschbetonplatten  markieren Wege über das Dach, werden aber schon bald von Flechten vollständig überwuchert sein.
Ich warte auf den EDV-Experten (was für eine altertümliche Bezeichnung), der mir die Internetverbindung wieder zusammen basteln soll, denn die Dozentin der "Orientierungs- und Aktivierungs-Maßnahme" gestattet mir, ein bisschen Lektoratsarbeit zu erledigen, nachdem sie am ersten Tag mitbekam, dass meine Kompetenzen nicht durch sieben Stunden "Lebenslauftraining" aufgefrischt werden mussten.
Nur: wie soll ich Gedichte lesen, mit einem derart schweren Schädel?
Also schaue ich erst einmal wieder aus dem Fenster, und das was ich denke ist: Bäume sind schön.

Man muss ab und an solche simplen Erkenntnisse sich vergegenwärtigen. Natürlich sagt man oft "Das ist aber ein schöner, alter Baum" oder "Ich liebe dieses grüne Blätterdach der Allee, einer Kathedrale gleich" - na gut, zweiteres sagt man vielleicht nicht allzu oft - aber diese Grunderkenntnis "Bäume sind schön", die gerät aus dem Blick. (Besonders wenn man nüchtern ist).
Und jetzt ist auch der EDV-Mann da gewesen. Und jetzt kann die Arbeit endlich beginnen.


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