Freitag, 31. August 2012

Was alles schon verschwunden ist, auf den Straßen, in den Höfen, hinter den Häusern.
Rote Hydranten aus Eisen, Teppichklopfstangen, Mülltonnen aus Blech mit der Aufschrift „Keine heiße Asche einfüllen“. Photos in Schwarzweiß, aufgenommen von gestorbenen Müttern mit Instamatic-Kamera. (Aber dieses Format gibt es ja wieder, es heißt Instagram und ist eine Applikation in der anderen Realität).
Nicht erhaltenswert, die Einzelheiten meiner Kindheit. Stattdessen haben die öffentlichen Wasserpumpen aus der Zeit meiner Großeltern überlebt. Alle Fassaden frisch gestrichen. Nur hinterm Grazer Platz stehen noch Mietskasernen, grau und beruhigend, ein Ausblick in die Vergangenheit. (Dort wird Übermorgen eine Solidaritäts-Veranstaltung für einen Rabbiner stattfinden, der vor drei Tagen schwer geschlagen wurde, zwei Straßen weiter, von Judenhassern, die auch hier wohnen, in meinem Kiez, der mir so kindergleich unschuldig vorkam, die letzten Jahre. Merkwürdig ist: ich hab den Rabbi Daniel Alter nie bemerkt, obwohl wir nahezu Tür an Tür seit Jahren hier zusammen leben).
Auch verschwunden: Wikingjugend. Gottseidank. Ich erinnere diese kleinen, bösen Kinder, von ihren Eltern auf den falschen Weg gesetzt, wie sie seinerzeit in Lüneburg, in der Nachkriegszeit der 70er, zur Sonnwendfeier durch die Wiesen zogen. Auch verschwunden: Männer mit weggeschossenen Armen, in grauen Freizeit-Anzügen und mit schmalkrempigen Hüten auf den schwer durchkämpften Häuptern. Die krieg ich nicht aus meiner Erinnerung heraus. Die kommen immer wieder in meine Texte rein marschiert. Die waren so harmlos und 1942 junge Burschen, an der Front, oder in Babij Jar. Gottseidank weg, diese Alptraum-Gestalten in den Gassen.
Aber zugleich gab es auch banale Dinge, an die ich mich erinnern kann, denn ich war ja ein Kind, nichts weiter, nicht besonders weltgewandt, unbeleckt vom Krieg.
Verschwunden sind auch die Zeichenschablonen in den Deckeln der Nutella-Gläser, die einzelnen Pfeifen in den Cornflakes-Packungen, die man zu Panflöten zusammen setzen konnte, wenn man in einem halben Jahr zwölf Schachteln Cornflakes aufgegessen hatte.
Abgebaut auch die Telefonzellen, die öffentlichen Fernsprecher, durch deren gläserne Schächte die Groschen rollten, sichtbar für den Anrufer. „Fasse dich kurz“.
Und der Schnee lag höher und war weißer. Die Freibäder hatten gefährlichere Zehn-Meter-Bretter, und die Wespen dort waren gelber. Und ich war mehr Kind als heute.

Wieso ist mein Hirn so gebaut, dass ich mich immer erinnern muss, immer zurück in die Kindheit rutsche? Aber diese Gehirnstruktur mag der Grund sein dafür, dass ein Dichter aus mir werden musste. Denn in dem Moment, in dem ich mich zu erinnern begann, ich war Zwölf und kein Kind mehr, fing ich an zu schreiben. So bin ich ein Knecht meiner Erinnerungen geworden. Doch sie werden vergehen, ausgelöscht sein im Moment meines Todes. Zurück werden nur bleiben: Wasserpumpen, Gehwegplatten, vereinzelt Blumenkübel aus Waschbeton. Und natürlich Jüngere mit anderen Erinnerungen, an Parkuhren (die nicht mehr nach Parkuhren aussehen), an Shopping-Malls, an öffentliche Internet-Bildschirme in der Amerika-Gedenkbibliothek, die eine Generation später auch verschwunden sein werden. Alles nur ein Gleichnis. (Wer allein lebt, lebt auch im Geheimnis).

Photo: Martin Hawlisch

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Dienstag, 28. August 2012

In den letzten Monaten beschäftige ich mich zum ersten Mal seit meiner Kindheit wieder ernsthaft mit Schach. Denn irgendwann reichte mir das ewige Memory, Mensch-ärgere-dich-nicht und Mix-Max mit meinem Sohn.
Allerdings spiele ich nicht mit den von meinem Vater geerbten Figuren, die wiederum er von seinem Vater bekam, sondern schlage mich mit dem Chess-Titans-Programm auf meinem neuen Notebook (mein bisheriges war so alt, dass Schach noch nicht im Lieferumfang von Windows dabei war). Und ich muss sagen, es macht mir einen Heidenspaß, vor allem natürlich, wenn ich das Elektronengehirn so brutal vernichte, dass die Kühlung nur noch winselt:

Chess Titans, Stufe 4

Ich kann mich gut erinnern, wie mein Vater mir das Schachspiel mit etwa sechs oder sieben Jahren beigebracht hat, und wie ich verlor, und verlor, und verlor. Bis ich gegen meinen großen Bruder spielte und immerhin ab und an gewann. Dabei war mein Vater gar kein guter Schachspieler, soweit ich mich erinnere, er spielte eher in Angedenken seines früh verstorbenen Vaters, der wohl ein leidenschaftlicher Spieler war, der sogar zur Zeit des Volkssturms auf dem Marktplatz vor seinem Lieblingscafé sitzen blieb, um eine Partie nach der anderen zu spielen. (Es ging die Familienlegende, er wäre für diese Unverschämtheit zwei oder drei Tage von der Gestapo inhaftiert worden).

Und jetzt bin ich wieder dabei, schade nur, dass ich die letzten dreißig Jahre so gut wie nie mehr gespielt habe und wenn, dann angetrunken in irgendwelchen Kneipen. Also werde ich leider kein guter Schachspieler mehr werden, was mir in den letzten Tagen auch von meinem neuen Begleiter aufgezeigt wurde, einem Mephisto Maestro, der mich umgehend in fünf, sechs Zügen eingetütet hatte. Mittlerweile komme ich immerhin ins Endspiel, aber selbst auf mittlerer Stufe habe ich noch kein einziges Mal gewonnen.
Das Chess-Titans-Programm ist derweil mein Sparingspartner. Fallobst, dass man niedermetzeln kann.

Chess Titans, Stufe 4

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Samstag, 25. August 2012

Es gibt nichts, was mich zur Zeit mehr fasziniert, als der E-Book-Markt. Vor allem die Selbstverleger-Plattform Kindle direct publishing entwickelt geradezu einen magischen Sog.
Natürlich habe ich früh als ernsthafter Autor gelernt, dass publizieren ohne Verlag nicht nur rufschädigend sondern sogar ehrabschneidend sein soll. Aber muss mich das kümmern? - Bei Amazon.de werden im E-Book-Bereich seit einigen Monaten Verkaufszahlen generiert, von denen ich sogar mit einem Vertrag bei, sagen wir, Suhrkamp träumen könnte. Wieso also nicht einen Roman dort veröffentlichen, der so oder so in der Schublade liegt, und der frühestens 2015 im Printbereich veröffentlicht werden könnte.
Und dann die Tantiemen die Amazon anbietet. 70 Prozent von allen Einnahmen. Ich bin ja nicht gierig, aber ich träume ganz plötzlich von einem Urlaub in der Südsee.

Ich überlege hin und her und werde ganz nervös, ob der ungeahnten Möglichkeiten in diesem Klondike des Buchhandels. DER NEUE MARKT. Durchbruch zu unbekannten Dimensionen. Vor uns der KINDLE-Spiralnebel, hinter uns die Gutenberg-Galaxis.

Und soweit ich das überblicke, wäre ich einer der allerersten ernsthaften Autoren, die dort einen Roman ausschließlich als E-Book veröffentlichen. Davon abgesehen findet man auf dieser Plattform nur Genre-Romane und Vanity-Press (nebenbei: das E-Book wird der Todesstoß für die unzähligen Zuzahl-Verlage sein).

Aber wenn im neuen Claim nur Lehm zu finden ist, das Gold ausbleibt... dann habe ich einen Roman geschreddert, an dem ich über ein Jahr gearbeitet habe.

Ach, ich habe mich ja schon entschieden: no risk, no fun.

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Mittwoch, 22. August 2012

Seltsam, dass das Leben im mittleren Alter so gleichförmig wird. Besonders wenn die Zeit nicht schneller vergeht, mit ablaufenden Jahren, so wie sie es alle immer berichtet haben.
Stattdessen ist meine Erinnerung ein gleichförmig blubbernder Fluss ohne Stromschnellen. Das liegt an meinem Gehirn, an der Verschaltung, die mir vererbt wurde von den Jägern und Sammlern, deren genetische Reste sich in meinem Selbst, meiner ADHS-Steuereinheit, versammelt haben (am Lagerfeuer, der blitzenden Synapsen meiner Großhirnrinde).

Demletzt haben DIE FORSCHER (so Kittel tragende Eierköpfe mit schwerem deutschen Akzent... there is an alien on your roof, I have to warn you) heraus gefunden, dass bei ADHS-Schlümpfen, bei den ganz Kleinen also, die Zeit anders verläuft, sich gleichförmiger ausdehnt, als bei den anderen Kindern im großen Kindergarten unter Gottes weitem Himmel.

Mir ist das nichts Neues. Schon immer lief mein Film mit der gleichen Bildanzahl, kein Zeitraffer setzte ein, mit zunehmenden Alter.
Aber leider werden auch die langweiligen Phasen im Rückblick nicht zum Schrumpfen gebracht. Andererseits erfahre ich so das Satori an jedem späten Sommernachmittag, den Zustand also, nach dem die Vormittagsmenschen immer noch Ausschau halten.

Trotzdem: diese Gleichförmigkeit ist gewöhnungsbedürftig. Ich lebe seit vier Jahren, seit Jahrhunderten also, in ein und derselben Straße, sitze in der selben Kammer (mit Blick in den selben, immer und fortwährend dunklen Garten) und schreibe Papier voll (virtuell).
Vor gerade mal sieben Jahren ist mein erstes Buch publiziert worden, und ich fühle mich, als wäre dieser Anfang meines Werks kanonisiert, abgehakt und ausgebuht... vor langer, langer Zeit.

Und all die toten Geister, die mich umgeben; waren die schon immer hier? Kaum zu glauben, dass mir noch genauso viele Jahre bleiben, vielleicht mehr.
Wenn ich dann wieder ein anderer Mensch geworden bin, in dreißig oder vierzig Jahren, werden die ersten Menschen auf dem Mars sein, und ich nicht dabei, weil ich alt geworden sein werde, ein Jäger am Feuer, hingelagert, mit einer Sicht auf die Dinge, die hinter ihm liegen. Ein langer, sommerlicher Spätnachmittag.
Der Geist meiner Großmutter wird die Goldfäden der Sonne im Wintergarten sortieren, meine Mutter sich eine Zigarette drehen. Der Vater wird „Prost“ sagen und „Schön, dass du auch endlich da bist“.
So ein langer Nachmittag. Aber so mild.

We'll meet again, don't know where, don't know when

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Montag, 20. August 2012

Und noch ein paar Photos von Toms 42. Geburtstag.

Gerhard Falkner, Björn Kuhligk

Tom Schulz, Gerhard Falkner, Björn Kuhligk

Gerhard Falkner

Eberhard Haefner, Birgit Kreipe, Johannes Frank

Johannes Frank, Gerhard Falkner

Ruth Johanna Benrath, Synke Köhler

Eberhard Haefner, Melanie Katz

Andrea Schmidt, Melanie Katz, Joh. Frank

Björn Kuhligk

Friederike Scheffler

Friederike Scheffler, Björn Kuhligk

Florian Voß
(Photo: Johannes Frank)

Aurélie Maurin

Johannes Frank

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Völlig verkatert war ich gestern auf einer Lesung aufgeschlagen. Der Schädel fühlte sich einmal mehr fremd, fremd, fremd an. Ich musste ein Gedicht auf dem Sommerfest des Verlagshaus J. Frank lesen, und nur meine preußische Disziplin brachte mich dazu, eine S-Bahn in Richtung Mitte zu nehmen, um mich dort für 60 Sekunden auf die Freiluftbühne des Acuds zu stellen. Mit wackeligen Stecken unterm verkrampften Leib las ich ganz hervorragend, weil mir alles gleichgültig war, ich nur schnell wieder nach Hause wollte, um mich unter meiner Decke zu verkriechen.
Eine dreiviertel Stunde später war ich wieder in Sicherheit, bei einer großen Schüssel Vanilleeis (Schokolade war leider schon aufgegessen).
Der übermäßige Kater ist die Konsequenz meiner Disziplinlosigkeit am Abend zuvor gewesen. Tom hatte seinen 42. Geburtstag in einem wunderschönen Wintergarten auf dem Dach eines Hauses am Kollwitzplatz gefeiert. Eine große Terrasse gab den Blick auf den jüdischen Friedhof frei, auf dem immer wieder ein Fuchs bellte, der sich anhörte, als hätte jemand sehr schmerzhaften Sex.
Die Nacht war mild, der Wein ausreichend vorhanden, und ich wollte gegen 1 Uhr gehen, nach maximal drei, vier Glas. Es wurden dann doch vermutlich sieben, und gegen 4 Uhr schwankte ich zum Nordbahnhof zurück. (In der S-Bahn ein Zombie-Roman auf dem Kindle).
Zuvor Gespräch mit Jan (Skudlarek) über Dichtergenerationen, und ob eine Einteilung nach Alter wichtig sei. (Er: nein. Ich: ja). Ein Gespräch über Dies und Das mit Johannes, eins mit Falkner über Stipendien, eins mit Ruth über den schlechten Stil, der in den deutschen Verlagen immer mehr um sich greift. Schließlich ein Tänzchen mit Björn.
Und die Nacht über uns, und die Nacht in uns, und der Fuchs bellte.


Synke Köhler

Björn Kuhligk

Gerhard Falkner

Tom Schulz, Gerhard Falkner, Björn Kuhligk

Gerhard Falkner, Björn Kuhligk, Tom Schulz, Florian Voß
(Photo: Ruth Johanna Benrath)

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Donnerstag, 16. August 2012

Heute war der 10.000ste Besucher auf diesem Blog. Präzise gesagt fand der 10.000ste Seitenaufruf statt.
Natürlich sind das real nicht mehr als maximal 200 bis 250 Menschen, die diesen Blog verfolgen, aber wenn die allein alle meinen aktuellen Gedichtband kaufen würden... dann hätte ich endlich mal passable Verkaufszahlen. Aber die Leute, sie kaufen einfach keine Gedichtbände. Ihr Nicht-Schriftsteller dort draußen macht euch ja keine Vorstellungen, wie unfassbar wenig wir Schriftsteller verkaufen.
Soll ich mal eine Zahl nennen? Soll ich? Also  gut, Hosen runter. . .
Nein, lieber doch nicht. Sollen doch die anderen zuerst.

Stattdessen mein Kommentar zu Herrn Wowereits Kulturpolitik (ja, er ist auch unser aller Kultursenator):

CDU-Wahlplakat, 1976

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Mittwoch, 15. August 2012


 Merkwürdig, dass die 90er Jahre auch schon ganz historisch geworden sind; alle Kinder, die jetzt dort draußen herum laufen, sind erst nach jenem Jahrzehnt geboren.
„Akte X“, „The Simpsons“, „Cagney and Lacey“. Warum erinnert man sich immer zuerst an Fernseh-Serien? Wie man auch zuerst an „Raumschiff Enterprise“ denkt, wenn man sich an seine Kindheit in den 70ern erinnert, an „Mondbasis Alpha 1“ und „Die Waltons“.
Oder an Groschenromane in den 80ern: „Geisterjäger John Sinclair“, „Professor Zamorra“, „Monstrula“, „Dämonenkiller“.
Nachdem die meisten Heft-Serien (wenn auch nicht die Erstgenannten) mit dem Erscheinen des Privatfernsehens verschwunden waren, aber natürlich nicht die potenzielle Leserschaft, habe ich mich oft gefragt, wo sie hin sind, die schnell geschriebenen Geschichten, der Schund. Ich habe sie wiedergefunden. Als ich mein neues Kindle zum ersten Mal online schickte und im Kindle-Shop stöberte, so wie ich seinerzeit in Flohmarktkisten stöberte, fand ich sie alle wieder; die Zombie-Heftchen, die Space-Opera-Zyklen, das ganze Universum des Trashs. Die Arbeit all der Schriftsteller, der Lohnschreiber, die in den letzten zwei Jahrzehnten nicht mehr für Lohn schrieben, die vermutlich von ihren Ehefrauen lebten, oder von der Stütze. Hier finden sie wieder ein Publikum, das jedes noch so kurze und abgeschmackte Werk mit ausführlichen Rezensionen adelt.
Und in der Bestseller-Liste der E-Books auf Amazon stehen diese Machwerke, die schnell und unprofessionell geschriebenen Zombie-Apokalypsen zwischen den Veröffentlichungen von Heyne und Bastei-Lübbe.

Gleich nebendran die Klassiker gratis. Nehmen sie sich noch ein Pfund Goethe. Packen sie eine Schnitte Hölderlin auf ihr Triebwerk, nein, Laufwerk.
Ich sehe die Felle der Verlage davon schwimmen. Irgendwann bleibt Bastei und Suhrkamp nichts anderes mehr übrig, als, nach der großen Markbereinigung, zu fusionieren. Dann erscheinen die Horror-Romane von Schiller in einer wohlfeilen Paperback-Ausgabe mit Goldschnitt.
Ach, ich erinnere mich, damals, eine Zeit in der Hölle. Aber John Sinclair kam eine Runde vorbei und knallte die Geister und Untoten mit seiner Beretta ab. Die war geladen mit Silberkugeln. Die machten jeden kalt.
Schon in der Kindheit hatte ich mich in die Phantastische Literatur verguckt, las Jules Verne, Gustav Meyrink, Edgar Allen Poe (natürlich auch Bücher wie „Das Raumschiff der Kinder“ oder „…“) und war fasziniert, wie Herr Spock auf der Mattscheibe des Schwarz-Weiß-Fernseh-Geräts gesagt hätte.
Mit elf hörte ich dann zum ersten Mal eine Kurzgeschichte von H.P. Lovecraft („The Outsider“), und auch ich war verloren an den Schund. Und kaufte mir, mein Freund Joe hatte mit das ans Herz gelegt,  jede Woche das neueste Heft des Geisterjägers. Er hatte den Namen eines Arnachists und Dichters. Und meine Eltern sahen es nicht gerne, dass ich mich täglich mit Monstern beschäftigte, und mein Großvater sagte, das würde den Charakter des Kindes verderben.
Aber was soll ich sagen; das brachte mich zum Schreiben. Und in meiner ersten Kurzgeschichte löste eine ältere Dame ihren fetten, trägen Ehemann in Salzsäure auf. – Es war ein weiter Weg von dort nach hier.
Nun sitze ich hier und schreibe an meinem Blog anstatt an meinem Roman, der seit über einem Monat liegt. Die ersten zwei Drittel sind fertig und überarbeitet, aber der Rest will sich nicht in meinem Kopf zusammenfügen, es entsteht immer nur eine Mischung aus Albert Camus, Ingeborg Bachmann und Jason Dark. Das geht natürlich nicht, aber mein Gehirn will nichts anderes denken. Ich sollte wieder Horror-Romane runter schmieren. Kindle wartet auf mich.

In den 90ern, da gab es noch kein Kindle, obwohl ich mich erinnern kann, schon in den frühen 80ern von der E-Ink-Technologie gelesen zu haben. Aber es hat ein viertel Jahrhundert gebraucht, bis ich dieses elektronische Buch in den Händen halten konnte. Und es ist genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Zwischen diesen Zeiten lag das Nachwende-Jahrzehnt, in dem es noch kein Internet gab, und mobile Telefone nur von Angebern, Geschäftsmännern und Nerds benutzt wurden (dieses Wort hörte ich auch zum ersten Mal 1993, aus dem haltlosen Mund einer Prinzessin aus Yale). Was, in Gottes Namen, hat man damals den ganzen Tag gemacht, außer seinen Kater auszukurieren und Postkarten zu schreiben, die von Friedrichshain nach Kreuzberg drei Tage brauchten. Neolithikum der Kommunikation. Unsere Gehirne sind anders geworden seitdem. Electric Cro Magnon.

(They say I´m wasting time, they say that I´m no good)

Florian Voß, nachts

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Sonntag, 12. August 2012

(Scheußlich sind die Tage unter dem Virenmond. Fett ist mir die alte Erkältung in die Glieder gekrabbelt, festgebissen hat sie sich wochenlang. Erika Fuchs würde übersetzen: Hust, hust, schnief, schnief, hatschi.
Sicher schon der siebte oder achte Infekt in diesem Jahr. Es verfolgt mich dieses leichte Fieber, seit meine Mutter mich ausgespuckt hat. Ich erinnere Schnee im grauen Raum hinter meinen glühenden Augenlidern, ein Gekrissel, das sich auf das ICH legte und es eindeckte nächtelang.
Schon wieder war ich zwei Woche in dieser zeitlosen Welt der Krankheit eingewickelt, und in mir schwappte eine Sehnsucht nach Sanostol empor. Nur schade, dass man sich als ausgebildeter Vater nicht einfach hinlegen kann, dass man vielmehr dem Kind schlapp hinterher hetzen muss, denn das Kind ist nur ein Überträger, das Kind wird nie krank, weil das Kind einen gesunden Lebenswandel hat, und nicht raucht, und nicht trinkt).

Hier bin ich also wieder, zwar mit einem Ziehen und Zwacken in den Gliedern, mit einem entfernten, hölderlin-artigen Frühlingsgefühl in den Knochen, aber noch haben sie mich nicht in den Turm gesteckt.
Ich las die letzten Tage wieder – nach Jahren – seine späten Gedichte, die mich schon hingerissen haben, als ich Zwanzig war. Damals wollte ich meinem eigenen Urteil nicht trauen; ich fragte mich: hat das nicht ein Wahnsinniger geschrieben, ein Mann, dem die Synapsen durchgebrannt sind; sollten nicht die früheren, die klassischen Gedichte besser sein, kann man diesen ewigen FrühlingSommerHerbstUndWinter denn lieben?
Jetzt lese ich sie wieder, die letzten Verlautbarungen des guten Scardanelli, und es schlägt mir mitten ins Herz, schlägt gegen den Takt meiner Herzschläge an.
So eine eisige Klarheit, so ein fokussieren auf die unwesentlichen, auf die echten und übersehenen Dinge, das ist es, was diese späten Hölderlin-Gedichte ausmacht. Während der Herr Hölterlein ausgemacht war... von seiner Welt, Umwelt, Umbra Vitae. Er musste nur mal schnell austreten (das Aas treten), musste nur mal schnell neben sich her treten, in die Welt hinein treten, ganz andere Wege gehen. Und kritzelte ab und an auf Papier, so wie es gut hundert Jahre später der Herr van Hoddis tat, dem man die Papiere wegnahm, von dem nichts scardanelli-artiges übrig blieb, weil seine Lehnsherren in den Irrenasylen nichts von dem Gekritzel verstanden. Sie haben es nicht vernichtet, sie haben es einfach nur weggeschmissen, kurz bevor van Hoddis nach der Vorhölle verschifft wurde.

Ich las das auf einem Kindle (mein neues Interface in die Gutenberg-Galaxis), und es war ganz umsonst, dieser Text, diese Poesie. Die ich mir herunter lud für UMME (Hölderlin nimmt die WUMME und lässt dein Gehirn an die Raufasertapete des Turmzimmers spritzen. Spritz, spritz).
Ah, das schönste Spielzeug, ein E-Book-Reader (don´t follow leaders, watch the e-book-readers). Ich bin so glücklich und begeistert am Anfang dieses Umbruchs zu stehen, in einem Zeitalter zu leben, das es mit dem Gutenbergs aufnehmen kann. Ich habe eine Luther-Bibel in den Händen (89 Cent im Kindle-Shop), ich werde dabei gewesen sein, zu dem Zeitpunkt werde ich dabei gewesen sein, an dem die Welt eine andere wurde, als die größte intellektuelle Revolution des 21ten Jahrhunderts begann. Ihr werdet sagen: Voß, haben wir es nicht auch eine Nummer kleiner. Und ich werde sagen: Nein, ihr Ignoranten.
Ich werde auf eure Bücher spucken. Im Licht meines Kindle-Bildschirms.

Jetzt muss ich wieder husten, der Schleim löst sich schwerfällig, die Nacht ist auch erkältet – Sommer, wer bist du, dein Gesicht habe ich lange nicht mehr gesehen. Nenn mich Herbst, mein Junge, ich habe Stoppeln aus gelbem Kraut im Gesicht, meine Füße sind kalt und rau, meine letzte SMS geht an die kalte Schlampe Winter.

Aber es war ein schöner Tag, auch wenn ich Hitzewallungen hatte, hochgedrückt im Körper vom letzen Aufflammen des Fiebers.
Wir saßen am Wahnsee, wir waren auf einem Fest. Meine Frau hustete wie Franz Kafka im Frühjahr 1924. Aber das Kind, der Überträger, das war glücklich. Es lief mit den anderen Kindern unter Kastanien und Eichen zum Ufer. Von der Terrasse aus beobachtete ich ihn, schaute zu ihm hin, sah den kleinen, blonden Jungen, wie er von den größeren Kindern getragen und herum gewirbelt wurde, sah, wie er lachte und glücklich war.
Das Kind stand an einem alten Baum und zählte bis Zwanzig. Eins, zwei, drei, vier, Eckstein, alles muss versteckt sein. Ich komme!
Und die Nacht senkte sich ganz langsam, und der See glitzerte ein letztes Mal, und die Kinder sprangen in die Dämmerung.
Und ich musste an Kafkas Buch „Betrachtung“ denken, und dass diese erste Miniatur dort das atemlose, sommerwarme Gefühl von elternlosen Kindern besser beschreibt, als ich es je könnte. Das Gefühl von Sand unter den Füßen, den Eindruck, den die Schattenrisse vor dem letzten Licht machen. Am See schwanken die Segelboote auf der dunklen Fläche, und die Takelagen machen dieses Geräusch, für das es noch kein Wort gibt. Die Eltern sind weit entfernt, man hört sie kaum, nur ein verwehtes Lachen und Tuscheln. Hey, dort ist ein Zaun, und in dem Zaun ist ein Loch. Ob es dahinter wohl in eine andere Welt geht?
Ich sah mein Kind, und ich sah, dass es glücklich war, und deswegen war ich glücklich.
Ich stand auf der Terrasse und aß Roastbeef, und dort drüben, gleich hinter dem nächsten Yachtclub, da hatte Kleist ein Verhältnis mit einer Pistole gehabt, und ein Stück weiter, im kalten, kalten Winter hatte Heym nicht aufgepasst.
Aber mein Kind leuchtete mit seinen blonden Haaren in die Nacht hinein. Und war ein Leichtturm des Lebens.

Karl Friedrich Schinkel "Der Morgen"

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