Montag, 28. Mai 2012

Die Gedanken eines ganzen Tages aufzuschreiben, auch die Eindrücke, angefangen mit den optischen Sensationen einer moosbewachsenen Mauern, bis hin zu den Falten der Menschen, die mir auf den Straßen entgegen liefen; jede Gefühlsregung, von dem unkonkreten Dunst des erwachenden Ichs am Morgen, bis hin zu dem unwesentlichen Panikanfall am Seeufer, weil ein leichter aber unmittelbarer Schmerz vom Solarplexus aus die untersten Rippen entlang fuhr; jeden noch so kleinsten Gedanken – zum Beispiel den, dass Christoph Schlingensief bald vergessen sein wird, vergessener noch als die zahllosen Schriftsteller, deren vergilbte und angeschlagenen Bücher man in den Grabbelkisten der Flohmärkte finden kann (habe ich diesen Namen schon einmal gelesen? A.J. Cronin? Ach, ja, der stand bei meiner Mutter im Bücherregal, in den siebziger Jahren, und ich habe demletzt auch wieder seinen Namen gelesen, in der Bestsellerliste eines Spiegel-Heftes, das mir zusammen mit anderen von einer Nachbarin geschenkt wurde, weil sie wusste, dass ich diese Hefte gerne zur Recherche für meinen Roman nutze; sie hatte sie auf dem Speicher ihres verstorbenen Vaters gefunden, so sagte sie, aber die Hefte stanken alle nach dem Moder eines Kellers, und so lagere ich sie seither auf dem Balkon, blättere ab und an eines durch, staune über die Jugendbildnisse so manchen Schriftstellers, lese die Bestsellerliste und stelle fest, dass auch vor dreißig, vierzig Jahren vor allem Schund gekauft wurde, sitze auf dem Balkon, trinke ein Glas Wein, rauche eine Zigarette und denke nach, versuche das Denken zu beobachten, nehme mir vor, später am Schreibtisch diesen Gedanken noch einmal nachzuhängen, denke an all die Einzelheiten, die Sensationen des Tages, vergesse sie wieder, schlage das Heft zu), will also die Gedanken eines einzigen Tages aufschreiben, zum Beispiel, dass mir wieder der Tod durch den Kopf gegangen ist (nein, nicht dass ich an den Tod gedacht habe, sondern dass er mir durch den Kopf gegangen ist, mit seinen schweren Stiefeln, in dem Moment, als mich dieser fremde Schmerz anfiel, der vom Solarplexus aus... und die Panik, eine leichte Panik nur, die ich schon so genau kenne, wie einen alten Freund, ohne dass wir je Freunde geworden wären, die Panik und ich, die einfach nur mein strenger Begleiter ist), all diese Gedanken also fassen zu können, das wäre ein Kunstwerk, das wäre Leben.
Stattdessen hechele ich ihnen hinterher, ein dünner ausgetrockneter Hund, auf den Pfaden, auf den Fäden der Zeit, der Nornen. Ich spinne ja nur, und wickele doch nur die Gedanken des Momentes auf, der jetzt, ich weiß es ja schon, vorbei ist, und nur eine Spur, eine Fährte von Pan hinterlässt.

Dabei war der Tag sehr schon, wenn auch der Körper die meiste Zeit nicht fröhlich sein wollte, der Geist war es schon, als ich mit meiner Familie am Schlachtensee war, meinen Sohn beobachtete, der in einer kleinen, kühlen Bucht baden ging, mit seiner Schaufel Schlick aus dem Wasser schippte, dessen Schwimmflügel orangefarben leuchteten vor dem glitzernden Wasser des Sees, auf dem die Ruderboote entlang trieben, oder mit in die Wasseroberfläche einschneidenden Rudern voran getrieben wurden (die aufstiebenden Wassertropfen, die Sonne halb hinter den Wolken, das andere Ufer mit den winzigen Badegästen). Was dachte ich da? Ich habe es schon wieder vergessen, in Erinnerung bleibt mir immer nur das Bild, manchmal auch Geräusche, niemals aber was in meinem Kopf vor sich hin redete. Vielleicht dachte ich ja nichts, vielleicht war ich ja glücklich?
Später dann, kurz nach der Mittagszeit (und wo hört der Mittag auf, fängt der Nachmittag an? – Darüber dachte ich gestern nach, schaute auch im Internet nach, doch nicht einmal Wikipedea konnte mir präzise Auskunft geben), gegen 14 Uhr also gingen wir zum Bootshaus und liehen uns ein Ruderboot (No. 35 für 4 Personen, so stand es auf dem Bug). Und dann ruderte ich hinaus, ließ die Ruder in die Wasseroberfläche schnellen, betrachtete die stiebenden Wassertropfen, schaute die Beine meiner Frau an, die vor mir saß, neben sich das Kind, das die kleine Hand durchs Wasser gleiten ließ, wie ich es auch gemacht hatte, als ich ein Kind war, und als mein Vater gerudert hatte (ist es wirklich mein Vater gewesen? Ist das eine falsche Erinnerung? – Ich weiß, dass ich die Hand durchs Wasser gleiten, und ich nehme an, dass es mein Vater war, der die Wassertropfen aufstieben ließ, aber sicher bin ich mir nicht).
Ich fühlte mich leicht, kein Schmerz mehr, keine Beunruhigung, nur ein Gleiten durch das Wasser, vorbei an anderen Ruderbooten mit lachenden Menschen, ab und an die Köpfe einiger Schwimmer, die ein bisschen wie die Köpfe in dem Stahlstich von Doré aussahen; der Stich, der die Eisfläche der Hölle zeigt, mit den eingefrorenen Menschen, deren Köpfe über das Eisschild hinausragen. Die Hölle also, in meinen Gedanken, aber gezähmt durch Kunst, und hier draußen ist der See, das Boot, meine Familie, die Sonne. Kaum ein Gedanke. Ich zeige auf die Uferböschung, auf die kleine Bucht, in der jetzt andere Kinder baden, und sage:
„Schau mal, Tristan, da waren wir vorhin“. Und Tristan schaut zweifelnd und sagt: „Wo?“
Und ich strecke die Hand, den Zeigefinger zur Bucht hin und sage „Da. Dort sind wir gewesen.“
Und sage zu mir, denke mir, lasse es in mir denken: Dort sind wir gewesen, dort habe ich etwas gedacht, aber jetzt nicht mehr, jetzt bin ich hier und denke etwas anderes, aber auch das kann ich nicht mehr erinnern, denn jetzt sitze ich hier, an meinem Sekretär aus den sechziger Jahren (einen ähnlichen hatte ich schon einmal, in den Achtzigern, und auch an ihm habe ich gerne geschrieben), sitze hier und schreibe, denke schon wieder mich fort aus meinen Gedanken.

Die Erinnerung ist das einzige was wir haben, das einzige was andauert. (Und natürlich habe ich auf dem See zuerst an die Bilder von Monet und Renoir gedacht, die sie malten im späten 19ten Jahrhundert, als sie, die Freunde, zusammen mit ihren Frauen – und vielleicht auch mit ihren Kindern – einen Ausflug machten, zu einem See; dort eine Bootsfahrt unternahmen, später sich und die Boote malten – ein glücklicher Tag. Heute sind die Bilder getrennt, hängen in verschiedenen Museen, waren aber wohl einmal in einer Ausstellung wieder Seite an Seite gehängt. – Und auch Renoir und Monet schon lange tot, aber immerhin nicht vergessen, wenn auch niemand mehr den Klang ihrer Stimmen beschreiben könnte, die Farbe ihrer Augen, die Wege und Pfade ihrer Gedanken).

Und leichten Heuschnupfen hatte ich auch. Und das Rumpeln der S-Bahn-Räder war zu hören. Und eine blau schimmernde Libelle schwebte über dem Wasser, ein winzig kleiner Polizeihubschrauber.

Monet

Renoir

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Samstag, 26. Mai 2012

Wenn es einen Ort gibt, an dem ich glücklich war, dann im Wintergarten meiner Großeltern. Ich saß dort in einem Korbstuhl als ich ein Kind war, ich schaute hinaus auf die mit Sonnenschein überschüttete Straße – die Stephensonstraat 3 in Den Haag – auf der manchmal ein blinder Mann mit einem weißen Stock vorbei kam. Den hatte ich eines Tages kennen gelernt, als ich auf der Straße spielte. Wir hatten uns auf die Freitreppe eines der mit glasierten Klinkern gebauten Häusern gesetzt, und ich hatte ihn interessiert nach seinem langen, weißen Blindenstock gefragt, und er hatte ihn mir vorgeführt, gezeigt, wie man ihn an einem halben Dutzend Gelenke zusammen falten konnte. Er hatte eine dunkle Brille und war vielleicht dreißig Jahre alt. Ich glaube, er hatte schwarzes Haar und einen hellen Anzug, obwohl es Sommer war und sehr heiß. Ich lief in Nietenhosen und meinem Stars-and-Stripes-T-Shirt durch die Ferien; an der Straßenecke stand ein Haus mit einem kleinen Turm, aus dem eine Glocke läutete, so dachte ich jedenfalls, aber vermutlich kam das tiefe, ruhige und warme Glockengeläut von einer Kirche am Hauptplatz des Viertels – Duinoord, ein Quartier das nur aus Sonne zu bestehen schien.
An der Eingangstür des Hauses wuchs ein Passionsblumenstrauch, auf den meine Großmutter sehr stolz war, und im Flur war es kühl, und die Bodenkacheln machten porzellanhelle Töne, wenn man über sie schritt.
Der Wintergarten lag hinter dem Klavierzimmer, in dem ein weiß lackiertes Klavier stand, auf dem niemand mehr spielte außer mir. Ich klimperte Katzenmusik auf den schwarzen Tasten, und von oben, vom Klavierdeckel her, glotzte mich eine Skulptur an, die mein Großvater gemacht hatte. Neben dem Klavier stand ein chinesisches Tischchen aus durchwirktem Ebenholz, darauf staubten Messinggerätschaften ein. Und dahinter war der Durchgang zum Wintergarten, in dem Bücher in einem Regal langsam ausblichen von den Sonnenstrahlen. Eine dunkelgrüne Kommode stand dort, in der alte Tischdecken aufbewahrt wurden und Spielzeug für die Enkel. Es gab eine Matchbox-Müllabfuhr, eines der wenigen Dinge, die ich heute noch aus meiner Kindheit besitze. Dieses Matchbox-Auto roch ganz phantastisch nach Metall. Jetzt riecht es nach nichts mehr, was vermutlich dem altersbedingten Absterben der Sinne geschuldet ist.
Vor dem Wintergarten war ein winzig kleiner Vorgarten zur Straße hin, ausgelegt mit geharkten Kieseln. Am Rande lagen zwei oder drei Steinplatten aus Waschbeton, unter denen Kellerasseln wohnten, die ich stundenlang beobachten konnte, und die ich meistens auf die Hand nahm, mit einem leichten Gefühl von Ekel, und mit einem leichten Gefühl von Faszination.

Und immer saß ich in diesem Korbstuhl, fernab der Erwachsenenwelt, und las Comics und lutschte Lakritzpastillen. Oder schüttete mir ein Salmiakpulver in den Mund, dass man beim Kaufmann an der Ecke bekommen konnte (ein kühler, schattiger Kaufmannsladen, der auch Sahneeis und Zauberbonbons führte, die beim Lutschen ihre Farben wechselten).
Ich musste heute daran denken, als ich mir das neue Einkaufzentrum auf der Schlossstraße anschaute. Dort gab es ein Schnick-Schnack-Geschäft mit Namen „Xenos“. Eine holländische Firma. Ich wollte dort nur einen Mülleimer kaufen, aber kurz vor der Kasse war ein Regal mit Süßigkeiten aufgebaut, holländischen Süßigkeiten, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte: Pfefferminzbonbons, Salmiakpastillen, Süßholzdragees!

Leider gibt es diesen Wintergarten nicht mehr, oder vielmehr gibt es ihn noch als Ort, aber er gehört jetzt anderen Menschen, denn die Großeltern sind lange schon tot, er ist jetzt blitzblank und durchlässig, und nicht mehr abgeschieden von der Erwachsenenwelt. Auch habe ich dort keinen Korbstuhl gesehen, als ich vor einigen Jahren noch einmal in der Stephensonstraat war.
Es ist eine teure Ecke geworden, die Häuser setzen keinen Staub und keine Flechten mehr an. Es wohnen dort nun Leute, die es sich leisten können.

Nachdem ich das letzte Mal die Stephensonstraat verlassen hatte, ging ich zur Trambahn-Haltestelle und wartete im Sonnenschein. Ich schaute über die Brüstung der Brücke, auf der die Haltestelle lag, zu den Hausbooten hin, die ich schon als Kind geliebt hatte, auf die steinerne Skulptur einer Mutter mit ihren steinernen Kindern, die die Mitte der Brüstung zierte, und von der meine Großmutter immer erzählt hatte, das wäre sie mit meiner Mutter und meiner Tante; und um mich herum versank die Welt und wurde gleichzeitig ganz klar und durchlässig. Auch ich wurde durchlässig in diesen Minuten bevor die Tram eintraf. Alles brannte sich ein, wurde zu einer Erinnerung, wie man sie so unmittelbar nur aus der Kindheit kennt.
Schon als ich drei, vier Jahre alt war, hatte ich an dieser Haltestelle gestanden, und mir die unschätzbar vielen Fahrkarten aus dickem, braunen Karton angeschaut, die im Gleisbett lagen, zwischen noch mehr Zigarettenkippen. Fahrkarten aus holziger Pappe, mit einem schmalen, roten Streifen quer durch die Mitte, und mit Entwertungsstempel an der Seite.

Wie echt die Erinnerung wirkt, wie nah. Aber es sieht dort alles anders aus jetzt, zwar nicht so anders wie an einer beliebigen Ecke von Berlin, es sind dort die Einzelheiten noch zu erkennen, bis vor wenigen Jahren gab es sogar den Korbstuhlladen im Souterrain an der Ecke, selbst die winzige Tankstelle mit den zwei Tanksäulen auf dem Fußgängersteig habe ich noch im erwachsenen Alter gesehen, aber trotzdem hat sich alles gewandelt. Zudem war ich nicht mehr dort, seit meine Mutter vor sechs Jahren starb, meine alte Mutter, die ihre letzte Zeit wieder in der Heimat verbrachte, nach Jahrzehnten der Grammatikfehler im Land meiner Geburt. Das ist keine Heimat mehr, aber manchmal denke ich, wenn ich sterben müsste, dann vielleicht doch im Wintergarten in der Stephensonstraat 3.

Von der Haltestelle aus konnte man den Weg zum Meer einschlagen, am Kanal mit den Hausbooten entlang, der Sonne entgegen, vorbei an einer pop-art-bunt bemalten Riesenskulptur, der ich immer aus dem Ford Taunus meines Vaters zuwinkte. Vorbei an einem Karatestudio in einem leicht runtergekommen Haus, in dem mein Onkel trainiert hatte bevor ich geboren wurde, immer weiter den Kanal entlang, bis man nach Scheveningen kam, über die Dünen stapfte (nachdem man an einem Wasserspender getrunken hatte, der zwischen Parkplatz und Dünenweg stand), und endlich die See sah, die Wellenbrecher aus schwarzen, glänzenden Steinen.

Ich habe vor einigen Jahren eine Serie von Viewmaster-Scheiben bei Ebay ersteigert, 3-D-Dias, die man mit einem grauen Bildbetrachter anschaute. Photographien von Scheveningen in den späten 60ern. Es war, als schaute ich in mein Gehirn, in den Bildspeicher meines Gedächtnis. Ich wäre so gerne in das Bild hinein gesprungen, auf den glühenden Sand des Strandes, hin zu der Bude, in der es Fritten mit Erdnusssoße und gesalzene Chips gab (in Deutschland zu der Zeit eine Rarietät, dort kannte man nur Paprika).

Ich vermisse den Strand, die gebackenen Muscheln am Hafen, die glühende Haut am Abend, wenn ich nach dem Essen, in der Dämmerung, mich in den Korbstuhl setzte. Ich vermisse so sehr diesen Wintergarten meiner Großeltern. Und meine Großeltern vermisse ich. Und meine Eltern. Und mich.

Der Wintergarten

Louise Tielens (geb. Van den Acker), Jan Tielens

Am Hafen in Scheveningen

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Sonntag, 20. Mai 2012

Nicolas Berggruen ist ein Zen-Kapitalist.

Sein Jet breitet seine Gedanken in den Himmeln über den Großstädten aus. Aber natürlich werden die Gedanken durchsichtig, während sie flirrend durch den Himmel hinab sinken.
Berggruen hat Geld, zahlenweise Geld, ich habe keins. Seit das Arbeitsamt die Miete gekürzt hat - denn ich lebe zu luxeriös in einer zu großen Wohnung - bleiben mir den Monat über knapp 200 Euro für Bücher, Essen, Trinken und Eintritt für Dichterlesungen. Aber mit vielen Kartoffelgerichten und ständigem Geschnorre geht es schon. Ja, danke der Nachfrage, es geht schon.

Aber ich könnte dem Zen-Kapitalisten Nicolas Berggruen einen Brief schreiben; natürlich nicht ihm, sondern seinem Vorzimmer, seinem Bodenpersonal, denn wie sollte der Brief seinen Jet erreichen? Es wäre ja kein Air mail special, sondern nur ein dünner Briefumschlag, der für 55 Cent von der deutschen Post befördert werden würde.
In dem Brief wäre ein gefaltetes Blatt, und auf dem Blatt würde NICHTS stehen. Es wäre ein Zen-Brief.
Aber natürlich könnte ich mich nicht unterstehen, ein Postskriptum anzuhängen:

Lieber Nicolas Berggruen,
wären sie so lieb, und könnten mich unter all ihren Bittstellern heraus picken. Könnten sie meine Arbeit fördern? Ich bin nämlich so arm, und ich habe nämlich so viel Arbeit zu tun.
Ich brauche ja gar keinen Jet, ich brauche nur eine Kammer und ein Essen und eine Flasche Wein (es muss kein teurer sein). Und natürlich die Extra-Miete, die mir das Jobcenter nicht zu zahlen gewillt ist.
Und sie könnten mich ab und zu an einen warmen Ort mitnehmen, wenn es Winter und dunkel ist in Berlin, damit ich dort noch mehr arbeiten kann, an einem lauen Abend in Port de Soller (es müssen ja nicht die Malediven sein, schon gar nicht die Südsee, ich heiße ja nicht Paul Gauguin).
Mit den allerbesten Grüßen Florian Voß

Oder endet man lieber mit "Vorzüglicher Hochachtung" (so unterschrieb mein Vater immer die Entschuldigungsschreiben an die Schule, wenn ich mit Mandelentzündung im Bett lag. Von draußen flockte ein trüb graues Licht in die Schlafkammer, und die Fieberträume bauten Berge von Schnee an den Hügeln des Landes Schizophrenien auf). Vielleicht aber sollte ich grüßen mit den Worten "Ihr unterthänigster Diener Florian Voß". Oder: "Ich lege mein Schicksal in eure Hände, Dominus".

Ach nein, ich lasse es besser; ich habe auch gar keine Briefmarken zur Hand, und das Geld ist ja knapp (die Monatshälfte überschritten).
Stattdessen sollte ich einen kleinen Tempel aus LEGO bauen, für Maecenas, der Vertraute des Kaisers Augustus, nach dessen Namen der Begriff geprägt wurde, und der dem Dichter Horaz einst ein Landgut schenkte, auf das er dort gut dichten könne.

Ich sitze lieber im Garten und lese Bücher (wobei auch der Bücheretat für den Monat wieder vollständig ausgeschöpft ist, obwohl ich kaum fünf - gebrauchte - Bücher gekauft habe, und zehn Hefte der Reihe "Poesiealbum", die ich für 80 Cent pro Stück in einem kleinen Antiquariat fand).
Ich sitze also im Garten unseres Mietshaus (diese Privileg habe ich, auch wenn es vom Jobcenter nur zum Teil bezahlt wird) und lese den Roman "Raumlicht" von Ernst Augustin. Ich hatte unlängst ein Interview mit dem Autor - der zwischenzeitlich greis und blind ist - in einem "Psychologie Heute"-Heft gelesen (ausgeliehen aus der Bücherei; Zeitschriften sind zu teuer für mich). Den Namen hatte ich zuvor noch nicht gehört, aber das Gespräch las sich interessant, und da ich zur Zeit in meinem neuen Roman "WERMUT" auch Themen der Psyche und Persönlichkeit (vor allem des ICH-Verlusts) behandele, bestellte ich mir bei Booklooker seinen Roman über eine Schizophrene Frau, Evelyne B. (1,25 Euro inklusive Versand; Bücher sind nicht mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt wurden).

Ein faszinierender Text, ein Ritt durch die Gedanken, umschwirrt von Eindrücken, die die Welt auf den Ich-Erzähler macht, einem Psychoanalytiker. So fern von der schriftstellerischen Konvention der 70er Jahre wie auch der Jetztzeit. Wobei: letztendlich entfernter von der Konvention des Jetzt; kaum denkbar, dass so ein Roman heute noch in einem großen Haus wie Suhrkamp verlegt werden würde, dass die Kritiker von ZEIT und FAZ darüber schrieben, und vor allem kaum denkbar, dass so ein Buch sich heute im ersten Jahr nach Drucklegung mehr als 5000 Mal verkaufen würde.

Heute würden die Lektoren (die Liktoren des Literaturbetriebs) sagen: Das! Können! Wir! Nicht! Verkaufen!
Und damit wäre die Sache vom Tisch. Und Mäzene, die dann herbei- und einspringen, die gibt es schon lange nicht mehr. Ich jedenfalls kenne keinen, aber ich kenne ja auch niemand, der einen Privat-Jet sein Eigen nennt.

(Vielleicht googelt er mich ja irgendwann einmal, der Nicolas Berggruen, auf seinem ultra-slimen Notebook, während er aus der Sichtluke seines Jets schaut. Vielleicht schickt er ja dann einen rettenden Boten).

 LEGO-Tempel für Maecenas

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Samstag, 19. Mai 2012

Zuckerberg ist der Gutenberg des 21ten Jahrhunderts.
Facebook ist ein größeres Weltkulturerbe als alle Büchner-Preisträger zusammen.


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Dienstag, 15. Mai 2012

Gestern Abend war großartig. Eine wirklich gelungene Lesung mit neuen Gedichten von Björn Kuhligk, Eberhard Häfner, Marcus Roloff und Alexander Gumz.
(Und meine uralte Digital-Knipse machte wieder einmal nicht das, was ich wollte. Ich brauche dringend eine bessere Kamera).
Ins Besondere Eberhards neue Texte haben mich stark beeindruckt. Beruhigend zu merken: auch im Alter kann ein Dichter auf andere Ideen kommen, sich fortentwickeln. Es gibt keinen Grund stehen zu bleiben. Und das die besten Werken in der vierten und fünften Dekade geschrieben werden, das scheint nicht zwingend zu sein.
Dann hab ich ja noch etwas Zeit, reich und berühmt zu werden.

(Ansonsten viel Arbeit, die Vorbereitung der Georg-Heym-Anthologie kostet Zeit. Korrespondenz mit rund fünfzig Lyrikern und Lyrikerinnen ist eine aufwändige Sache. Aber das Buch wird toll werden. Nur leidet der Blog im Moment etwas darunter. Ich hoffe, dass ich ab anfang nächster Woche wieder mehr zum Schreiben komme).


Jan Skudlarek

Eberhard Häfner

Alexander Gumz, S. K.

Jan Skudlarek, Stephan Reich

Marcus Roloff

Max Czollek

Birgit Kreipe, Björn Kuhligk

Björn Kuhligk

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Mittwoch, 9. Mai 2012

Mit meinem Sohn ging ich am Nachmittag an der Buchhandlung des Viertels vorbei ("Walthers Buchladen"), und das Kind rief (wie immer): "Ein Pixi! Ein Pixi!"
Ich schüttelte den Kopf und zog es an der Hand weiter (an der Buchhandlung vorbei, die für das Kind offenbar das war, so schien es, was für andere Kinder gemeinhin McDonalds ist). Das Kind schrie und zeterte. Ich beugte mich zu ihm und sagte: "Tristan, ich kann dir nicht ständig Bücher kaufen."
Mein Sohn blickte mich trotzig und schlau an und erwiderte fest und bestimmt: "Aber ich brauch das für meine Arbeit!"
Was sollte ich tun? Ich kaufte ihm also ein Pixi, meinem Schriftstellersohn ("Max lernt schwimmen").

An der Tür nahm ich noch eine "Rowohlt Revue" mit. Habe ich lang nicht mehr gelesen. Und ich kann mich erinnern, wie ich mit 14, 15 Jahren alle Vierteljahre dem Erscheinen entgegen fieberte. Ich lief Ende des Quartals immer schon zu früh zur Montanus-Buchhandlung in der Waldstraße. Merkwürdig, wie sehr man sich für eine Werbebroschüre begeistern kann. Aber ich liebte die RoRoRo-Panther-Reihe. Das waren legendäre Bücher, mit New-Wave-Cover, und billig waren die, das Taschengeld reichte für zwei im Monat. In der Reihe erschienen viele Anthologien, in denen wirklich aktuelle und spannende Geschichten und Gedichte publiziert wurden, über Sachen, die mich betrafen; vermutlich waren diese Anthologien auch meine erste Begegnung mit zeitgenössischer Lyrik. Ich habe sie geliebt. Und deshalb musste ich am Ende des Quartals in die Buchhandlung laufen, um die "Rowohlt-Revue" zu holen.

Heute stehen natürlich kaum mehr interessante Neuerscheinungen drin. Um als angehender Schriftsteller aufzuwachsen, waren die 80er Jahre günstiger. (Allein die weiße Heyne-Lyrik-Reihe, wenn ich nur dran denke, wird mir ganz schwummerig). Die Rororo-Panther-Bände sind mit die einzigen Bücher, die ich aus meiner Jugend aufbewahrt habe, sie stehen alle noch im Flur, und ab und an lese ich wieder in der einen oder anderen Anthologie.


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Im Halbschlaf liegen neben dem Kind, das aufgeschreckt war aus dem Schlaf und wieder zu Bett gebracht werden musste, im Halbschlaf neben dem ruhig und regelmäßig atmenden Kind, im Halbdunkeln – nur durch den Türspalt zum Flur fällt Licht. Und immer wieder im Takt seiner Atmung in Schlaf sacken.
Wie ist denn dieser Übergang, oder ist es kein Übergang? Im Aufschrecken darüber nachdenken, mit einem Gehirn, das immer wieder die Grenze überschreitet zum Schlaf hin. Und diese Grenze ist mehr wie ein Sandstreifen, in den das Denken sinkt, unter dem sich ein Bild in die Dunkelheit des Denkens, des „Worte bildens“, in diese Lichtlosigkeit hinter den Augenlidern also schiebt, ein noch schemenhaftes Bild, das langgestreckt so da liegt im Bewusstsein, und dass dann das Bewusstsein entlang dieses Bildes, das mehr ein leuchtender Streifen ist, der sich immer tiefer in den wirklichen Traum windet... dieses Bild also, diese Rutschbahn eines Bildes zieht das Bewusstsein auf eben diesem Bild hinab, das Bewusstsein strudelt, gleitet hinab, oder doch eher hinauf (aber hinauf in den Schlaf, der über meinem Gehirn liegt wie ein lichtloser Himmel), über den Grenzstreifen fliegt es, gleitet es noch immer aus der unpersonellen Ich-losigkeit des Halbschlafs in die fast personelle Ich-losigkeit des Traums, der aber noch nicht so weit hinabreicht, oder der mich noch nicht so weit zu sich hinab (oder hinauf) gezogen hat, dass ich nicht wieder in das Denken zurück schrecken kann und meinen Fingernagel spüre, der sich in meine Gesichtshaut gegraben hat, weil ich im Hinabsinken den Zeigefinger an die Wange gelegt habe.
So geht das hin und her, und ich bekomme es nicht zu greifen, weil mein Ich nicht vorhanden ist, oder vielmehr ruhig gestellt.
Und werde ich, wenn ich denn einstmals sterben muss, genau so aufschrecken aus diesem Prozess, der mich in die Ich-losigkeit hinein winden wird. Wird da etwas anderes kommen, hinter dem Traum, kann hinter dem Traum etwas anderes kommen als Schlaf? Wird jemand atmen, etwas atmen, hinter meinem Atem? Oder wird vielmehr mein Ich aus der Rutschbahn des letzten Bildes (Worte bildend) in das AUS rutschen und still sein, wird die Kopfmaschine aus dem Wort-Takt geraten und verstummen?
Oder werde ich eingehen in einen Traum den man allgemein hin Tod nennt, und der mir einen Rest übrig lässt, mir gestattet eine fast personelle Ich-losigkeit zu sein, als ein mehr und mehr verschwindender Partikel in einem noosphärischen Traumstreifen, der keine Grenze mehr ist, der sich aber erstreckt in beide Richtungen der Zeit, ohne den Raum je zu steifen?

Und jetzt sitze ich hier, vor meinem Computer, der, so sagt man uns, bald ein Bewusstsein haben könnte, ein unsterbbares, ewig währendes Ich. Hier sitze ich also, fern des Atems meines Kindes, das zwei Räume weiter in seinem Schlaf liegt, und die Zeit zieht einen Graben zwischen seinem Gleiten durch seinen Traum, der ihn zu einem weiteren Morgen bringen wird, und meinem Wachsein, meiner Wachsamkeit, die doch durch das Fließen der Zeit immer wieder (und immer fortwährend) ein Ersterben des Bewusstseins ist, denn schon kann ich mich nur noch an den Anfang dieser Zeilen erinnern, schreibe sie nicht mehr, habe nur ein Fenster von drei Sekunden (so sagt man uns), die mir als Leben erscheinen, bin also nur noch ein Vermittler meines eigenen Todes der letzten Sekunden, habe nichts im Gehirn als Erinnerungs-Träume, gleite durch diesen Abschnitt von Bewusstsein wie eine Leiche, habe nichts in den Händen, habe nichts vor den Augen. Aber alles ist noch da. Ich könnte aufstehen, hinüber gehen, nach meinem Kind schauen. Das atmet. Und träumt. Und nichts von all dem weiß. Das unberührt ist vom Tod.







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Montag, 7. Mai 2012

Nach der Lesung in der Z-Bar, als ich mit Freunden zusammen stand und die Falten in den Gesichtern zählte (ein Dutzend, ein Hundert, eine Ansammlung von Netzen, die sich mit anderen Netzen in weiter entfernten Teilen des Gesichts verbanden), als ich also meine Freunde anschaute, fiel mir erneut etwas auf:
Wenn du die Menschen kennst, die dich gerade umgeben, wenn es Freunde sind, oder zumindest nahe Bekannte, die dir immer vor Augen waren, über Jahre hinweg, dann scheinen sie dir genau so jung zu sein, wie du selbst. Im Personalausweis steht ausweislich: 40 Jahre alt, oder 45. Aber sie alle sind jugendlich in deinen Augen; Jugendliche, die Eltern haben, Jugendliche die noch die Kinder von irgendwem sind.
Anderntags aber, oder Wochen zuvor, stehst oder standest du zum Beispiel im Großraumabteil eines ICE, und neben deinem Sitz, in dem du fast versackt warst, mit einem Buch in den Händen, das du nicht gelesen hattest, weil deine Ohren immer spitzer wurden, da standen zwei ältliche Männer im Mittelgang und unterhielten sich über sonst was (vermutlich über Fußball, so wie sie sich immer über Fußball unterhalten, diese dick gewordenen Familienväter). Und du dachtest: was für alte Säcke, der eine könnte mein Vater sein, der andere mein verlebter Onkel.
Und dann schwenkte ihre Unterhaltung zu einer Geburtstagsparty, und dir wurde mit einem Schlag, einem heftigen, bewusst, dass diese ältlichen Männer fünf, sechs Jahre jünger waren als du selbst, jünger noch als deine jüngeren Freunde. Väter waren, so wie du Vater bist, Falten hatten, Schmerbäuche, Hängetitten unter den ausgeleierten T-Shirts.
Kein Gedanke mehr, jugendlich zu sein, nur noch das faltenscharfe Spiegelbild des gestrigen Morgens vor dem inneren Auge. Die steifen, kaum beweglichen Finger am Buchrücken. Plötzlich um Jahrzehnte gealtert, endlich ein Vater, mit einem schon toten Vater. Und alle Freunde jünger als du. Und die Welt nur noch ein Hauch in deiner Welt, fast schon eine Erzählung über einen Mann, der einstmals gelebt hatte, der Bücher in den Händen gehalten hatte, dessen Namen man nicht mehr wissen konnte, wenige Jahre später.

Aber in der Z-Bar, unter all diesen Freunden (und den guten Bekannten), da war das Licht trübe und gnädig. Und hier sind die letzten Bilder des Abends.

Florian Voß
(Photo: Asmus Trautsch)

Florian Voß, Johannes Frank 
(Photo: Asmus Trautsch) 

Florian Voß, Johannes Frank 
(Photo: Asmus Trautsch) 

Butch Cassidy and the Sundance Kid 
(Photo: Asmus Trautsch) 

Björn Kuhligk, Johannes Frank

Björn Kuhligk, Johannes Frank

Norbert Lange, Asmus Trautsch

Norbert Lange, Asmus Trautsch

Andrea Schmidt, Jinn Pogy

Björn Kuhligk

Tea Kolbe

Tea Kolbe

Johanna Melzow


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Sonntag, 6. Mai 2012

Und noch mehr Photographien vom Transversalia-Abend am 4. Mai 2012.

Julián Herbert, Norbert Lange, Rike Bolte, Johanna Melzow

Norbert Lange, Rike Bolte

Johannes Frank

Publikumsrest nach der Pause

Johannes Frank, Julián Herbert

Amelie Frank

Norbert Lange

Julián Herbert und Zuhörer

Julián Herbert und Zuhörer

Andrea Schmitt, Jinn Pogy, Amelie Frank

Andrea Schmitt, Jinn Pogy, Amelie Frank

 Andrea Schmitt, Björn Kuhligk, Jinn Pogy, Amelie Frank 

Asmus Trautsch

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Samstag, 5. Mai 2012

Another evening in the famous Z-Bar. Kurz bevor es wieder kühl wurde, noch ein früher Abend vor der Tür des Etablissement, und das Publikum für die Buchvorstellung der Transversalia-Anthologie tröpfelte nur langsam herbei; es sah bis kurz vor der Lesung so aus, als würden wieder einmal mehr Leute auf dem Podium als im Auditorium sitzen.
Aber zu meiner Überraschung war der Raum dann doch gut gefüllt, und die Lesung lief rund. Ins Besondere der mexikanische Dichter Julián Herbert beeindruckte mich mit seinen gut gefügten, auf angenehme Art sehr zeitgenössischen Gedichten.

Nach der Lesung dann wieder vor die Tür in die schon kühle Nacht. Neben unserem Pulk von Dichtern und Dichterinnen, ein anderer Pulk von Nachtgängern. Dazwischen, mit einer in die Stirn gezogenen Schirmmütze Wolfgang Herrndorf. Dieses Profil im Halbschatten.
Und ich habe mich nicht getraut, ihn kurz anzusprechen, um ihm meine Verehrung auszusprechen. Vielleicht hätte es ihn gefreut. Vielleicht aber auch nicht.
Später wieder an die Bar und trinken. Schwer angeschlagen nach Hause. Am nächsten Nachmittag Gäste zu Kaffee und Kuchen. (Mein Leben ist zerrissen zwischen Boheme-Dasein und Bürgerlichkeit).

Johannes Frank, Jinn Pogy, Rike Bolte

Julián Herbert, Johanna Melzow

Johannes Frank, Rike Bo

Jinn Pogy

Johannes Frank, Björn Kuhligk


Johanna Melzow, Julian Arp

Björn Kuhligk, Rike Bolte

Publikum 

Publikum

Jinn Pogy, Julián Herbert,
Norbert Lange, Rike Bolte

Julián Herbert, Norbert Lange,
Rike Bolte, Johanna Melzow

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