Freitag, 30. November 2012

Vorgestern trafen sich die Dichter dann in der Gaststätte Willy Bresch, zu einem Stammtisch außer der Reihe.
Bis vor Kurzem war das ja die vermutlich letzte richtige Eckkneipe im Prenzlauer Berg, in der die arbeitslose Arbeiterschaft schon gegen 21 Uhr sich dem Vollrausch ergab, mittlerweile ist der Schankraum nach 22 Uhr von Szene-Gestalten geflutet. Dann kann man nur noch die Bedienung als Orginal zu bezeichnen.
Ich kann mich an die Zeit erinnern, als wir dort zum ersten Mal einritten, das wird gut acht Jahre her sein. Wir waren eine Ansammlung von völligen Fremdkörpern in dem Laden, wurden aber als merkwürdige Ausstellungsstücke in Ruhe gelassen. Mittlerweile ist das alte Stammpublikum in diese Rolle gedrängt worden. Gentrifizierung in der Pinte.
Und das Bier kostet noch immer 1,50 Euro, der Korn "Hausmarke" 1,10 Euro.

Ron trägt mittlerweile Bart, was ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit Adrian Brody verleiht, Björn lektoriert seinen neuen Gedichtband zwischen zwei Bieren, und ich dampfe größtenteils eine E-Zigarette. Birgit trinkt einen Kaffee und verlässt uns schon zeitig.
Das Gespräch kreiste um Literatur (wie immer), Gott (das war überraschend) und Schach (ich vermute, dass ich das Thema aufbrachte). Neu war mir, dass Eberhard in den 60er Jahren auf Bundesliga-Niveau spielte und einst gegen einen Großmeister in einem Simultanspiel Remis hielt.
In mir reift seit diesem Abend endgültig der Plan, einen Schachclub zu gründen. man könnte ihn "Schachfeunde Else Lasker-Schüler" nennen.

Ron Winkler

Björn Kuhligk, Eberhard Häfner

Ron Winkler, Tom Schulz

Florian Voß, Eberhard Häfner

Björn Kuhligk lektoriert

Ron Winkler, Tom Schulz

Eberhard Häfner, Ron Winkler

Willy Bresch

Florian Voß

Tom Schulz

Björn Kuhligk

Voß, Häfner, Winkler, Schulz, Kuhligk

Tram

S-Bahnhof


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Dienstag, 27. November 2012

Am Sonntag habe ich mir den zweiten Abend des Zeitkunst-Festivals angeschaut (am Tag zuvor war ich noch zu erkältet). In der Villa Elisabeth wurde eine Performance aus Musik (John Cage), Lyrik (Max Czollek, Ricardo Domeneck, Maya Kuperman) und Lichtinstallation (Dieter Puntigam) geboten, die ihresgleichen sucht. Ich habe seit Jahren nicht mehr eine so beeindruckende Bühnenschau gesehen, ein Avantgarde-Zirkus. Inszeniert wurde der Abend von Lilly Jäckl. Ich war von der ersten bis zur letzten Minute gefesselt (obwohl ich zum Ende hin dringend Pipi musste).
Von der Aufführung habe ich leider keine Photos machen können, da meine Knipse zu lichtschwach ist, stattdessen gibt es aber ein paar Bilder von der Aftershow-Party, die Julian Arp und Johanna Melzow ausrichteten. Es gibt keine schöneren Feste, als die der Beiden, kein Fest, auf dem die verschiedensten Nationen sich in der Küche zusammen quetschen, und die - meist kulturellen - Neuigkeiten der Kontinente austauschen.
In Johanna und Julians Küche wird einem schlagartig bewusst, dass Berlin die einzige Stadt Deutschlands ist, in dem ein Knotenpunkt des Röhrensystems zwischen den Metropolen liegt.
In der Szene um das Zeitkunst-Festival und das Verlagshaus J. Frank - die ja eng miteinander verzahnt sind - habe ich das Gefühl Weltbürger zu sein. Für einen Mann, der in Lüneburg und Karlsruhe seine Kindheit und Jugend verbrachte, ist das ein tolles Gefühl.

Villa Elisabeth

Caspar Frantz

Ballsaal

Johannes Frank führt ein

Oya Erdogan, Odile Kennel

Tobias Roth, Caspar Frantz

Ricardo Domeneck, Johannes Frank, Johanna Melzow

Julian Arp

Lilly Jäckl, Ricardo Domeneck

 Ricardo Domeneck, Johannes Frank 


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Samstag, 10. November 2012

Das Kind spielt Schreibtisch.
Genauer gesagt spielt es Dichter, mit Hocker und Zetteln und blutrotem Filzstift. In der letzten Zeit immer nur Bücher mit Polizei, Polizei, Polizei. Doch so lernt es keine Sachen, das Kind - sagt das Kind zu mir. Derweil ich über den Tod nachdenke und in den heran rauschenden Winter schaue. Derweil das Licht im Zimmer brennt, um fünf Uhr Nachmittags, und das Schaukelpferd nickt, und die Giraffe murmelt: Das bringt doch alles nichts. Vielleicht musst du ein Toten-Gedicht schreiben.
Aber bitte auch ein Polizei-Gedicht soll es werden - sagt das Kind.

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Freitag, 9. November 2012

Nachdem ich mehr als drei Monate keine Zeile an meinem neuen Roman geschrieben habe, hat er mich heute wieder angefallen.
Das ist eine schreckliche, wenn auch altbekannte Erfahrung gewesen, als mir im Spätsommer der Elan und die Ideen für den Text ausgegangen sind. Aber immerhin bin ich ja ein erfahrener Schriftsteller, der sich zu helfen weiß.
Ich habe also einen weiteren Roman angefangen, um nicht in diese Leere gehen zu müssen, die mich unruhig macht, unzufrieden und angefressen. Und dieser Text schreibt sich seitdem schnell und unfallfrei.
Damit nicht genug: zeitgleich habe ich mit den Vorarbeiten zu einem dritten Roman begonnen, der mich Tag für Tag gedanklich beschäftigt, so dass ich den ersten (der mein dritter Roman werden wird) ganz aus dem Blick verloren habe.
Aber ich redete mir ein, dass das eine gute Idee sei, um den Bezug zu jenem Roman ganz und gar zu verlieren, um dann mit frischem, leeren Geist in den zweiten Teil einzusteigen.
Ich weiß, das hört sich idiotisch an, hat aber funktioniert.
Stand der Dinge ist: Für Roman Nummer 3 sammele ich in jeder wachen Minute Material, kaufe einen Haufen Bücher, in denen ich recherchiere Hauptsächlich die Biographien der handelnden Personen. Roman Nummer 2 – ein ganz böses Genre-Ungeheuer – schreibt sich fast von selbst. Und mein Lieblingskind, Roman Nummer 1, hat mich jetzt wieder abgeholt, beim Abwasch. Da hat sich mein Gehirn in einigen Schlaufen verdreht, und die Schlange meines Geistes spuckte so grünes Zeugs aus. Das konnte ich verwenden, und heute Abend habe ich dann rund 15000 Zeichen in die Tastatur gehackt.
Zwischendrin noch ein paar Gedichte, Blogeinträge und ein Text für eine Anthologie, die nächstes Jahr bei der Büchergilde Gutenberg erscheinen wird. Meine Güte; und ich hatte in meiner Jugend immer den Ruf, faul zu sein.
Nummer 1 wird jedenfalls ein ganz, ganz merkwürdiges Buch. Eigentlich hatte ich vor, einen klassischen Roman zu schreiben, mit Plotpoint und Spannungsbogen, aber es ist mir wieder nicht gelungen. Ich befürchte, das Feuilleton wird den Text unter “Hättest du mal in Leipzig studiert” einordnen, aber ich finde mich gut zurecht in der Konstruktion.
Es ist sowieso eine Schande, dass die mitteleuropäischen Kritiker nur noch die literarische Hausmannskost goutieren. Weicht man auch nur einen leichtfüßigen Quickstep vom vorgezeichneten Weg ab, schreien sie schon nach dem Heiligen Reich-Ranicki. Deswegen sie auch kaum Lyrik besprechen. Es geht gar nicht darum, dass sie solche Dinge schlecht finden, nein, sie verstehen sie einfach nicht.
Ich jedenfalls genieße es, mit drei Romanen zu jonglieren. Und Ideen für einen weiteren habe ich auch schon notiert.
Es fragt sich nur: wer soll das alles publizieren, wer das alles lesen?
Doch letztendlich ist mir das egal. Ich bin Schriftsteller, ich schreibe.

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Montag, 5. November 2012

Ich habe Julius Röntgen angeschrieben. Er hat meine Mutter nie kennengelernt. Die beiden standen niemals Hand in Hand vor der Statue auf der Conradbrug. Es wäre zu schön gewesen, nach mehr als sechzig Jahren so eine Wahre Begebenheit zu entdecken. Aber diese zwei Kinder sind in den späten 40er Jahren aneinander vorbei gelaufen. Sind vielleicht nur das eine oder andere Mal zur gleichen Zeit in die Tram Nr. 3 eingestiegen. Und Julius hat Johanna die Zunge rausgesteckt, und meine siebenjährige Mutter hat mit den Augen gerollt.

Aber für mich ist dieses Gedankenspiel wieder eine Erinnerung mehr. So wie die Lesung von Markus eine Erinnerung mehr ist.
Hier die Photos von der - nennen wir es - Aftershow-Party:

Florian Voß (Photo Adrijana Bohocki)

Daniel Falb, Steffen Popp

Adrijana Bohocki, Hendrik Jackson

Markus Hallinger

Karla Reimert, Markus Hallinger, Marte Huke

Der Hallinger Markus

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Sonntag, 4. November 2012


Was nicht aufgeschrieben wird, das ist vergessen.
Die letzten Wochen habe ich kaum geschrieben, weder am Blog noch an anderen Texten. Und all die Erlebnisse, die ich jetzt nicht mehr erinnere, die sind in die Unterwelt meines Selbst abgetaucht. Auch wichtige Ereignisse, wie die Lesung von Hallinger letzte Woche, werden mehr und mehr zu Schemen.
Ohnehin eine faszinierende Sache, was sich einprägt und was nicht. Wenn man sich in einem unspektakulären Moment des Lebens vornimmt, diesen sich einzuprägen, funktioniert das sogar. Nachdem ich die Wohnung meiner gestorbenen Mutter geräumt hatte, vor nunmehr fünf Jahren, fuhr ich zum ehemaligen Haus meiner Großeltern, stand lange davor und ging dann zurück zur Straßenbahnhaltestelle. Dort wartete ich, mit Blick auf die Brücke, die sich über den Stichkanal zur Küste wölbte. Die Statue auf der Brüstung sah noch immer aus, wie meine Großmutter in jungen Jahren mit ihren zwei ältesten Töchtern. Das war schon immer Familienlegende gewesen und hatte sich mir in früher Kindheit eingeprägt, als ich jeden Sommer an dieser Brücke an der Laan van Meerdervoort stand. Die Sonne schien fast golden, der Himmel war weit und holländisch. Und ich prägte mir den Moment ein, dachte kurz über einen Bioladen nach, der am anderen Ende der Straße aufgemacht haben sollte – selbst das erinnere ich noch jetzt – schaute die Gleise entlang. Und seitdem liegt mir diese Szenerie klar vor dem inneren Auge. An das Gesicht meiner verstorbenen Mutter kann ich mich schon nicht mehr so gut erinnern. Hätte ich keine Photos, wäre ihr Antlitz genau nur noch das: ein Antlitz.
Also lasst mich schnell noch über Hallingers Lesung schreiben (mit dem ich zur Zeit eine Partie Schach per Email spiele; er hat mal 1850 Elo gehabt – und er wird mich fertig machen, befürchte ich).
Wir kamen zusammen am vergangenen Sonntagabend im Wedding. Im Parlandopark lasen eine norwegische Dichterin und eben Markus Hallinger, dessen Debütband ich unlängst in der Lyrikediton 2000 herausgegeben habe. Und obwohl ich die Gedichte fast auswendig kannte, ich hatte sie ja lektoriert, verblüfften sie mich erneut, faszinierten mich gesprochen noch einmal mehr.
Gute Gedichte sind das, uneitel und genau, ganz neben der Spur, auf der die meisten Dichter heutzutage fahren. Eigen sind sie. Und der Gedichtband heißt auch so: Das Eigene.
Ich bin sehr froh, dass ich dieses Buch herausgeben durfte.
Die Lesung war gut besucht; in erster Linie waren andere Dichter und Dichterinnen gekommen, was ja eine ähnliche Bedeutung hat, wie vorwiegend asiatisches Publikum in einem chinesischen Restaurant in Berlin: das Essen muss phantastisch sein.

Hendrik Jackson

Marte Huke, Hendrik Jackson

Karla Reimert, Markus Hallinger

Steffen Popp, Adrijana Bohocki, Birgit Kreipe

Steffen Popp, Adrijana Bohocki, Birgit Kreipe

Hendrik Jackson, Markus Hallinger

Hendrik Jackson, Marte Huke

Markus Hallinger

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Gerade habe ich nach einem Photo der Statue auf der Brücke gesucht und sie auf der Homepage eines Mannes gefunden, der 1945 in Den Haag geboren wurde und seine Kindheit um die Ecke der Laan van Meerdervoort verbracht hat. Da meine Mutter 1943 zur Welt kam und ebenfalls ihre Kindheit in diesem Viertel verbrachte, auch täglich mit der Tram Nr. 3 von der Brücke abfuhr, ist es fast schon wahrscheinlich, dass sich die beiden kannten, zusammen auf der Straße gespielt haben, vielleicht sogar die selbe Schule besuchten. Auch dieser Mann, Julius Röntgen, schreibt sehnsüchtig über seine Erinnerung an die Statue. So zentrieren sich viele Gedanken um dieses Bild eines Sommermorgens, eines Winternachmittags auf der Brücke, auf der auch ich so oft stand, mit Blick auf die steinerne Mutter mit ihren zwei steinernen Kindern.
Das Internet ist eine Art von Noosphäre geworden, ein Nullpunktfeld, in dem sich alle personengebundenen Neuronen vereinen. Es ist eigentlich der konkrete Himmel geworden, ein Jenseits aus Nullen und Einsen.

Conradbrug (Photo: Julius Röntgen)

Dirk Wolbers: "Veilig in 't verkeer", 1937 

Meine Mutter, im Alter meines Sohnes

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