Mittwoch, 4. Juli 2012

Ich fühle mich so müde wie ein alter Mann. Der Schlaf war kurz, die Maßnahme hat mein Gehirn durch Nichtbenutzung abgenutzt, und auch zum Arbeiten bin ich nicht gekommen. Ich war nicht einmal motiviert Gedichte zu lesen.
An solchen Tagen, wenn ich in diesen großen Ordner eingeheftet werde, der sich Realität nennt, wenn dieser große Ordner mich in die Irrenanstalt des wirklichen Lebens einweist, in der es nichts zu tun gibt, außer zu warten und das Gehirn gut zu lüften, immer dann wird mir klar, wie grau und grauenhaft die meisten Leben sein müssen. Wenn der Mensch nichts zu tun hat, dann flieht er dem Fernseher entgegen, der noch nicht einmal das Selbst aufsaugen kann, denn das hat die Langeweile schon ausgelöffelt.
An Tagen wie diesen wird mir deutlich, wie privilegiert ich eigentlich bin, mit all der Arbeit die mich erfüllt, die mich ausfüllt (und mit der ich mich abfülle), wie schrecklich es sein muss, arbeitslos zu sein. (Wobei die anderen, mit denen ich in jenem ausgekeimten Raum mit fleckiger Auslegware saß, sich tapfer hielten, selbst die, die sich schon vor langer Zeit aufgegeben haben, saßen dort ihre Stunden ab, obwohl es ja ein Leichtes gewesen wäre, von einem gutwilligen Arzt ein Attest zu bekommen, das von der Orientierungs- und Aktivierungsmaßnahme entbinden würde, und sei es nur durch einen vorgetäuschten Schnupfen. Aber, nein, sie schlagen auf um acht Uhr morgens und lernen tagelang, wie man eine Bewerbungsmappe gestaltet).

Am Nachmittag erwartete mich dann ein Umschlag auf dem Schreibtisch: das Freigabeexemplar der Georg-Heym-Anthologie „Ich bin von dem grauen Elend zerfressen“ war aus der Druckerei gekommen, und nun hielt ich es in den Händen, den Rucksack mit meiner Frühstücksbox und der Wasserflasche noch auf dem Rücken. Meine erste Herausgabe! Wenn ich nicht so müde gewesen wäre, hätte ich mich unbändig gefreut. So freute ich mich auch, aber etwas verhaltener und in dem Wissen, dass Schlafentzug präzise die Erinnerung löscht; Opfer von Unfällen und Verbrechen wird heutzutage empfohlen, die Nacht nach der Tat oder dem Geschehen nicht zu schlafen, dann würde sich die traumatische Erinnerung schwächer einprägen.

Doch jetzt gerade liegt der Band wieder neben mir auf dem Schreibtisch, und morgen wird er auch noch dort liegen, und am Wochenende. Und am Wochenende werde ich ausgeschlafen sein. Ich werde mich erinnern können.
Und ihr dort draußen müsst das Buch alle, alle kaufen. Denn es ist ein phantastisches Buch geworden, eine Anthologie zum 100sten Todestag Georg Heyms. Mit dreißig Gedichten von ihm, die von dreißig zeitgenössischen Dichterinnen und Dichtern erwidert wurden, so von zum Beispiel Max Czollek, Stephan Reich, Birgit Kreipe, Jinn Pogy, Hendrik Jackson, Jan Wagner, Björn Kuhligk, Tom Schulz und Katharina Schultens.
Und hier ist der Link zum Verlag: Lyrikedition 2000. Und so sieht es aus:


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