Dienstag, 19. Juni 2012

Wie wäre er denn gewesen, der Westen, im Jahr des Herrn 2012? Wenn die Mauer nicht gefallen wäre.
Eilmeldung Reuters, vom 27. Oktober 1989: nach der Chinesischen Lösung in Leipzig und Berlin, sind gestern die letzten Widerstände der DDR-Opposition zusammen gebrochen. Es kam zu Massenverhaftungen. Viele Bürgerechtler wurden in zuvor angelegten Lagern eingeliefert. Unsere Korrespondenten sind ohne Nachricht dieser Entrechteten, und auch die genauen Todeszahlen des Massakers auf dem Alexanderplatz entziehen sich weitgehend unserer Erkenntnis. Aus Oppositionellenkreisen wird aber von mehreren Hundert Ermordeten berichtet. Seit Montagabend herrscht Friedhofsruhe über dem stalinistischen Teil Deutschlands.

Die DDR ist also nicht zusammen gebrochen und hat sich in den darauf folgenden Jahrzehnten, ebenso wie die anderen Ostblockländer, abgeschottet. Nur in Rumänien gab es 1994 einen Volksaufstand, der aber von Sowjetischen Truppen blutig niedergeschlagen wurde. In der Zone heißt seit 1997 der Generalsekretär des ZK Egon Krenz (nach einem innerparteilichen Putsch gegen Honecker, bei dem seine Frau Margot auf ungeklärte Weise ums Leben kam). In der BRD regiert der agile Wolfgang Schäuble seit 1998 mit der Mehrheit einer schwarz-grünen Koalition (Joseph Fischer wurde als Außenminister als einziger aus dem rot-grünen Kabinett unter Lafontaine übernommen, und ist nunmehr seit rund zwanzig Jahren der ewige Vizekanzler). Bundespräsident ist Rezzo Schlauch. Er wurde von der CDU/CSU mitgewählt, die so ihr Interesse an einer Zusammenarbeit mit den Grünen verdeutlichen wollte. (Die FDP unter Gösta Ostermann scheiterte bei den letzten Bundestagswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde, die Freien Wähler unter Eike Siebenhaar zogen hingegen zum ersten mal mit knapp neun Prozentpunkten ins Parlament im Bonner Wasserwerk ein)

Eine Misere also, die westdeutsche Politik, insbesondere weil Altkanzler Kohl alle Tage seinen Senf dazu gibt, ebenso wie Altkanzler Schmidt, der ihm alle Tage widerspricht.
Aber es gibt ja auch den Lifestyle des Westens, der bügelt einiges aus. Zum Beispiel die hoch subventionierte Literaturszene in Westberlin, die fast allen Dichtern und Bohemiens ein Einkommen sichert. Unlängst wurde sogar eine eigene Literatursparte mit festangestellten Schriftstellern im Schillertheater eröffnet. Oberbürgermeister Frank Steffelt sprach aus diesem Anlass von "einem großen kulturellen Schritt der freien Welt". Auch der Ehrenvorsitzende der Berliner CDU, Eberhard Diepgen, konnte sich nicht verkneifen, auf die prekäre Lage der Schriftsteller in der sogenannten DDR hinzuweisen. Nach seinem Grußwort wurde ein Kassiber des Dichters Tom Schulz verlesen, der eine mehrjährige Haftstrafe im Gefängnis Bautzen absitzt, nachdem er seinen berühmt-berüchtigten Gedichtband im westdeutschen Hanser-Verlag veröffentlicht hatte. Sein Buch "Gehn´se weiter, Herr Gefreiter" hatte die eisgraue Nomenklatura der DDR so erzürnt, dass es zu einem, von der "Aktuellen Kamera" übertragenen, Schauprozess kam, in dem Schulz zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde.

Im Westen hingegen ist das Leben schön. Besonders in Westberlin. Man darf überall rauchen (kiffen auch, der Besitz und Konsum steht seit 1996 nicht mehr unter Strafe), die Wohnungen sind billig - ich wohne mit meiner Familie in SO 36, Blick über die Mauer ins braunkohlegefärbte Treptow, 6-Zimmer-Küche-Außenklo, Ofenheizung, 480 Euro warm. Ach, nein, 670 DM natürlich, denn den Euro gibt es ja nicht (beziehungsweise den ECU), das sind ja alles nur Planspiele des damaligen Bundeskanzlers Kohl geblieben, kurz bevor er 1994 abgewählt wurde.
Mit meinem Job beim SFB (Redakteur für Hörspiel und Radiokunst) und der obligaten Berlin-Zulage, lässt sich diese Miete leicht tragen, und für winterliche Ferien in Griechenland reicht es allemal (der Kurs der Drachme steht günstig zur Zeit). Ausserdem habe ich letztes Jahr zum dritten Mal das große Berlinstipendium bekommen, zusammen mit 59 anderen Dichtern. Die 40.000 DM sind noch nicht ganz aufgebraucht.
(... tbc ...)

Der Ostberliner Dichter Tom Schulz,
kurz vor seiner Verhaftung

.

1 Kommentar: