Dienstag, 26. Juni 2012

Am gestrigen Morgen stand ich also um Punkt 8.28 Uhr an der Tür, hinter der die Maßnahme wartete. Ich strich mein Haar glatt und ging hinein. Dort saßen knapp zwanzig Arbeitslose um ein Tisch-Hufeisen und starrten mich an. Und der Kursleiter teilte mir zerknirscht mit, dass ich überzählig sei. Denn das Jobcenter würde zu solchen Kursen immer die doppelte Anzahl Teilnehmer verpflichten, in der Erwartung, dass das lasche, arbeitsscheue Pack nur zur Hälfte auftauchen würde. Da aber der arbeitslose Arbeitnehmer von Angst getrieben ist, heutzutage, waren zu diesem Kurs schon vor dem festgelegten Beginn die nötige Anzahl erschienen, so dass ich mir wenige Minuten später mein sinnloses Erscheinen im Sekretariat bestätigen lassen und wieder nach Hause fahren konnte. Und ich fuhr mit meinem Fahrrad durch die Kleingartenanlagen (die Wolken jagten über den Himmel), zwischen der Maßnahmenmisere und meinem Heimathafen, und ich war ernsthaft betrübt. Man wollte mich mal wieder nicht haben. So schade ist das.

Den Tag verbrachte ich dann mit Lesen und Vaterpflichten. Und war sehr froh, am Abend endlich zusammen brechen zu können. Das Leben der Boheme ist hart. Und ich schlief 14 Stunden am Stück einen rauen und schwermetallfarbenen Schlaf, aus dem ich an diesem Morgen ausgemangelt erwachte, um ein wenig zu weinen.
Danach war Korrespondenz zu erledigen, das Kind wollte unterhalten werden, das Wetter war trübe.
Ich las zwischendrin bei Facebook, dass eine Freundin den Jahreszeiten eine neue Abfolge gegeben hatte: Frühling, Arschloch, Herbst und Winter. Aber damit war ich nicht einverstanden, vielmehr müsste man sagen, die Klimakatastrophe beschere uns einen ewigen Herbst. Trakl hätte diese Katastrophe geliebt. Und nebenbei: müsste der Kölner Dom nicht schon halb unter Wasser stehen; gab es nicht in meiner Jugend dieses Spiegel-Titelbild, dass uns so ikonographisch an den Untergang gemahnte?

Am Nachmittag ließ ich mir eine neue Brille anpassen, aus Glas, bei Fielmann, für 35 Euro. Danach wieder auf den Spielplatz, auf dem die Mütter genervt in den Himmel blickten und die Kinder zaghaft mit den Schuhspitzen im Spielsand scharrten. Die wilden Kirschen neben den Kleinkindschaukeln waren noch grün, der Körper, den ich mit mir herumtrug, war ein Schlachtfeld, über das der Krieg schon fort gezogen war, und das nun wüst und eingestampft unter dem Himmel aus weißem Hemd lag.

Ich ging zurück zu meinen Büchern und las über die Spitzel. Und es gab einiges, was mir einfiel, was mich anfiel, als ich über diese Spitzel mir Gedanken machte:
Es sind die Randfiguren, und eben nicht die zentralen Spitzel der Szene vom Prenzlauer Berg gewesen, die sich nach der Wende literarisch durchsetzten konnten; Hilbig und Grünbein haben den Büchnerpreis bekommen, Wawerzinek den nach Ingeborg Bachmann benannten. Wer hätte das gedacht, in den alten Kreisen hinter den sieben Bergen, dass S.C.Happy einmal alle nicht nur überholen, nein überrunden würde.
Mir ist er 1992 als versoffenes Subjekt vorgestellt worden. Der hätte nichts zu sagen, der da, der gerade auf der leeren Bühne der Volksbühne tanzte und Reden schwang, in die leeren Logen hinein, der nicht bei den wichtigen Leuten im Roten Salon oder in der Kantine das Maul aufriss, auf dieser wichtigen Premierenfeier, der lieber den Stühlen etwas erzählte.
So kann man sich irren.

Die zwei Spitzel hingegen, die Hoffnung der gesamtdeutschen Literatur, die einen Nachwendesommer lang herum gereicht wurden, Herr Anderson und Herr Schedlinski sind abserviert (sie werden platziert), der eine verstummt, der andere nahezu. Nichts genaues weiß man nicht. Sie scheinen ihr Geld zu verdienen, sie haben ein Privatleben, sie äußern sich nicht zum Sachverhalt.
Mit dem einen saß ich vor einigen Jahren am Kneipentisch, nach einer Lesung (nicht seiner), und er schien mir ganz guter Dinge. Er erzählte, er hätte eine Gryphius-Erstausgabe im Regal stehen. Und er sprach leise. Und mich überkam ein leichtes Gruseln, wie ich so neben ihm saß.

Das war vor Jahren. Kaum etwas ist übrig geblieben von der einstigen Szene. Ganz historisch ist das alles geworden. Die zwei Spitzel sind vom westdeutschen Feuilleton dazu verwendet worden, die ganze Szene unter den Teppich zu kehren. Papenfuß, Matthies, Jansen, Faktor; wer spricht noch von ihnen? Nur Kolbe hat sich auf ein Treibgutstück retten können.
(Oder liege ich falsch, sehe ich das alles nicht richtig, ist mein nachgeborener, westdeutscher Blick zu astigmatisch? Und wären diese, meine Augen seine, hätte Nicolas Berggruen das genau so gesehen?)

Aber geradezu paranoid macht mich die eine Überlegung: es wird in allen Verlautbarungen zu der Zeit, in den frühen 90ern, als ich gerade nach Berlin gekommen war und als naseweiser Jungdichter im Café Westphal stand, und in die Dämmerung hinein blickte, aus der nur zwei, drei bleiche Köpfe ragten, die vielleicht die angefüllten Schädel von Dichter waren, zu der Zeit also wird immer nur von zwei Spitzeln berichtet, dabei kann man in den übriggebliebenen Akten und Karteikarten nachlesen, dass es einige mehr gegeben haben musste, in der Prenzlauer-Berg-Connection. Doch wer waren sie? Das ist nicht mehr gefragt worden, denn irgendwann im Jahre 1993 waren alle Kombattanten so ermattet von dem Kampf in den Blättern, war auch das Marktgeschehen in den Kulturbeilagen plötzlich auf andere Affairen fokusiert, dass alle ins Schweigen zurück fielen.
Und wieder überkommt mich ein leichtes Gruseln, denn sie sind ja alle noch da, die Schuldigen und die Unschuldigen, aber ich weiß nicht mehr, wer auf welcher Seite der Barrikade nächtigt. Ich könnte auf Lesungen stehen, in der Literaturwerkstatt oder in irgendeinem Club, und neben mir steht ein ehemaliger Spitzel, der mir ein Bier reicht. Oder mir von seiner Gryphius-Erstausgabe flüstert.

(Und die einzigen, die vielleicht bescheid wüssten, wären die Herren (und Damen) vom Verfassungsschutz (deren Akten ich auch einmal gerne einsehen würde), denn sie hatten vielleicht die längsten Finger im Jahr 1990, und sie haben die besten Argumente auch heute noch, die Hunde schnüffeln zu lassen).

Und schrieb dies ein Schuldiger oder ein Unschuldiger?

das zimmer mit den zwei fenstern
der tote mantel dieser
nicht näher bestimmbare geruch
das hockende telefon das alles
in einem gewissen missverhältnis

die immer rätselhafteren
flecken an der wand der
verschwollene sessel die schwarze
kaffeekanne die umgekippten bücher die
vertrocknete goethepflanze

das alles war zu erwarten das
leichte fieber der lampe der
leer gestikulierende spiegel daneben
der lange kalender die fortschritte für
freitag die vaterschaftsklage

& weitere einzelheiten überall
ungenutzte elektrostecker die
dummen geräusche von unten die
türen in ihren geölten angeln
haben eine antwort auf alles

(aus „die rationen des ja und des nein“ von rainer schedlinski, aufbau 1988)

DAS LYRISCHE ICH
(Photo: Andres Rueda)

.

7 Kommentare:

  1. Spitzel: Lutz Rathenow hat da m. E. noch einige Namen verzeichnet.
    Jansen: Johannes hat zuletzt Bücher in einem Minimalverlag (Sven Bremer Verlag) herausgebracht, der, wie mir jetzt auffällt, auf meine Bestellung vor Wochen nicht reagiert hat. So ist das.
    Faktor: als Prosaautor hat er ja dann doch noch reüssiert, mit dem Döblin-Preis.
    Musste darüber nachdenken, was du andernorts erwähnst, dass einem der besten unabhängigen Lyrikverlage die Teilnahme an der lcb-Messe der Qyips, wie ich sie mal nenne (quite young independent presses) verwehrt worden ist. Wie auch die Aufnahme in die Kurt-Wolff-Stiftung schon, obwohl Aufnahmekriterien erfüllt werden. Beides mehr als bedenklich. Zwei unglaubliche Affronts (Lobbyistik?). Letztlich den Autoren gegenüber.

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  2. Die Peinlichkeit dieses Ergusses wäre keines Kommentars würdig (»Ich strich mein Haar glatt und ging hinein.«), aber »etwas ist übrig geblieben«, »etwas«, eine zwanghafte Befriedigung an der korrekten Verwutzung der korrekten neuteutschen Rechtverschwurbelung! Mal abgesehen davon, daß »die Mütter genervt in den Himmel« »aus weißem Hemd« »blicken« – ich kenne keine Kinder, die »zaghaft mit den Schuhspitzen im Spielsand scharren«! Solch eine armselige Narzißterei habe ich lange nicht vor die »ernsthaft betrübt[en]« Augen bekommen. Es fängt an, mich im Halse zu würgen, wohlan! Wie schön ist es doch, »am Abend endlich zusammen brechen«, ergo gemeinsam kotzen zu gehen.

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  3. Johannes Jansen: "nach her. Eine Erklärung"
    166 S., 12,5 X 19 cm, brosch., € 17,90
    ISBN 978-3-902665-38-6

    BP steht daselbst in der ostseeanthologie des ron w., das "treibgutstück", auf das bert-"wer spricht noch von ihm"-papenfuß sich retten konnte, heißt im übrigen "rumbalotte continua", 1. bis 7. folge, 2004-2010, 320 seiten, im schuber, siehe http://www.amazon.de/Papenfu%C3%9F-Rumbalotte-Continua-Schuber-Bert/dp/3879563608/ref=sr_1_9?s=books&ie=UTF8&qid=1340793687&sr=1-9

    usw usw usf ...

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  4. Aber, lieber Ron, das genau meine ich doch: Jansen eben beim Sven Bremer Verlag, nicht mehr bei Suhrkamp. Papenfuß nicht bei Hanser sondern beim Peter Engstler Verlag. Weg sind sie. (Wobei ich bestimmt nichts gegen diese kleinen Verlage einwenden will).

    Und was die Junge-Verlage-Messe im LCB angeht: das ist schon eine ziemliche Unverschämtheit. Und ich kann die Beweggründe dieser Unverschämtheit einfach nicht erkennen. Ist mir alles rätselhaft.

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  5. Und um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen: ich bedauere es sehr, das Dichter wie Papenfuß, Faktor oder Jansen nicht die Anerkennung im sog. Literaturbetrieb und vor allem im Feuilleton bekommen, die ihnen zustehen würde.

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  6. Die Anonymen werden eines Tages ganz anonym sterben. Was für kleine Galle-Menschen auch! Keine Träne wird ihnen nachzuweinen sein.
    PS: Florian, dein Eintrag war nicht missverständlich. Wer daraufhin mit ISBNs kommt, gehört genau zu denen, die die Bücher der Erwähnten nicht mehr lesen.

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  7. zaghaft im Sand scharrende Kinder kenne ich auch nicht. Kollektiv unter Drogen die armen Kleinen?

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