Donnerstag, 28. Juni 2012

Gerade, nachdem ich den Abend in meiner stillen Kammer verbrachte hatte, die auch still geblieben war, weil offenbar die deutschen Fußballdeppen verloren haben, und in der ich zehntausend Zeichen in die schäbige Tastatur meines Laptops Baujahr 1998 gehackt habe; gerade nachdem ich die Kammer mit teerverklebten Lungen und rotweindurchschossener Leber verließ, musste ich an Radio 100 denken.
Ich hatte in der Anthologie "Vogel oder Käfig sein", die die Samisdat-Druckerzeugnisse der späten DDR Revue passieren lässt, einige Gedichte von Rüdiger Rosenthal gelesen, der mir kein Begriff war. Beim Googlen entdeckte ich, dass er wohl das lyrische Schreiben nach der Wende eingestellt und stattdessen Journalist geworden war. Unter anderem bei Radio 100.
Auch das ist völlig verschwunden, kaum noch ein Gerücht, schon zwanzig Jahre her. Ich war gerade in Berlin angekommen, hauste in der düsteren Parterrewohnung meines Bruders, der für ein geschätztes Jahr nach Leningrad gegangen war (so hieß das damals noch, mein Sohn), und zählte die Weberknechte an den Wänden des Flurs, trank den Maitre Philippe aus der Flasche und rauchte Senoussi. Und hörte jeden Abend, bevor ich ins Café Anfall ging (oder ins Niagara, oder in den Heidereiter) diesen einen Sender: Radio 100. Das beste Radioprogramm, dass jemals über den Äther ausgestrahlt wurde.
Auch wenn ich nicht mehr sagen kann, was eigentlich genau gesendet wurde, ist schon zu lange her, nur so ein Klumpen Erinnerung ist übrig geblieben, in dem Stimmen sind und Musik. Feeling B wurde dort gespielt, und die ersten deutschsprachigen Platten von Element of Crime. Und Kassettensampler aus der Independent-Szene. Merkwürdige Krachmusik aus dem tiefsten West-Berlin. Und es gab Kulturprogramme für Anarchisten, für Radikale und für Schwule & Lesben (Eldoradio hieß die Sendung und war vermutlich die erste ihrer Art europaweit).
Ich glaube, um 17 Uhr wurden Kultur- und Szenenachrichten gebracht, und die Sendung hieß "Teeschock". Oder hieß die eine "Teerausch" und die andere "Kulturschock"?
Und da war noch viel mehr, aber es verschwimmt mir im Kopfe.
Das eine weiß ich aber noch: wenn eine Straßenschlacht in Kreuzberg oder Friedrichshain stattfand, dann wurde in den Verkehrsnachrichten von Radio 100 auf die gesperrten Straßen hingewiesen: "Liebe Leute, auf der Oranien- und Wienerstraße ist alles zu wegen eines Polizeieinsatzes. Bitte umfahrt den Bereich weitläufig, und, Freunde, geht da bitte nicht hin". (Mach ne Faust aus deiner Hand...)


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