Sonntag, 10. Juni 2012

Ein Sonntag: die Kutscher trinken ihr Bier mit Orangenlikör im Schatten der Kirche. Ihre Augäpfel ganz weiß, ihre Haare dunkle Wälder aus schweren Gedanken.
Nein, so ist es nicht, keine Kutscher mehr in den Straßen von Friedenau, nur eine Ahnung, die aus den Gaslaternen strömt – die auch schon seit Jahrzehnten abmontiert sind, hier im Kiez.

Ich sitze im Garten mit einem Manuskript auf den Knien – die Anthologie zum 100sten Todesjahr von Georg Heym, die morgen früh in den Satz geht – und die Kirchenglocken läuten um die Mittagszeit vom Grazer Platz her.
Es gibt kaum etwas, was mich so sehr beruhigt, wie Kirchenglocken am Sonntag, kein Kirmesschlager könnte mir diese Gelassenheit einsingen. Die Hummeln summen, die Sonne bricht ab und an durch die schweren Wolken, die heute ganz leicht aussehen, auch wenn ihre dunklen Ränder dräuen (Heym hat mir ein bisschen die Sprache infiziert an diesem Tage). Stunden sitz ich über dem Manuskript und korrigiere die Texte, und jede Stunde schlägt die Glocke.
Schade nur, dass sie nicht mehr die Viertelstunden anzeigt. Ich kann mich erinnern, dass sie das tat, als ich durch Lüneburg streunte, in den 70er Jahren. Verschattete Männer mit schmalkrempigen Hüten in der Fußgängerzone hinter dem elterlichen Haus, Damen mit matten Wildledermänteln, unter deren Säume die Miniröcke hervor blitzten, Motorradrocker auf Kreidler-Mopeds. Und Kinderbanden, die dazwischen durch flitzten. Ich mittendrin vor der Eisdiele Fontanella (ob die Babys dieser Familie halbgeöffnete Schädel hatten?), in der es Spaghettieis gab, das unfassbare fünf Mark den Becher kostete, und das ich nur ein einziges Mal aß, eingeladen von der Referendarin meiner Grundschule (oder war es eine andere junge Frau mit blumenbestickter Bluse?). Aber die Kugel ordinären Eises war billig; 30 Pfennige für eine Portion Haselnuss, Blaubeere, Malaga oder Straciatella.
Und die Kirchenglocken vom Sande schlugen nicht nur jede Stunde tief wie ein Herbstschatten, sondern auch hell jede viertel Stunde.
Am Sonntag morgen lag ich zwischen meinem Eltern im Bett und sog den Geruch der Laken ein (vermutlich eine Mischung aus „Omo“ und Erinnerung), versank in den Kissen, schmiegte mich an meine Mutter und hörte durch das gekippte Fenster das Glockengeläut, dass über den moosüberwachsenen Hinterhof, über die alten, schrundigen Dächer, durch die schmalen Gassen und Straßen schallte. Von Sankt Johanni her, der gotischen Kirche am mittelalterlichen Platz, der schon immer „Am Sande“ gehießen hatte.
(Wann hat das aufgehört, dass die Viertelstunden geschlagen wurden?)
Und jetzt also im Garten mit Georg Heym, der alten Wasserleiche, den ich schon als Kind las, in einem winzigen Bändchen, das in dem Bücherregal meiner Mutter stand, neben einem winzigen Bändchen von Trakl. Und am Abend wurden mir Kindergedichte von Morgenstern vorgelesen; es konnte aus mir gar nichts anderes werden.

Nachdem ich das Manuskript Korrektur gelesen habe, schaue ich im Kühlschrank nach Abendessen, das leider nicht mehr vorhanden ist. Also schwinge ich mich auf mein Fahrrad (das ich im Winter für 27 Euro bei ebay ersteigerte) und fahre zum LIDL-Markt am Innsbrucker Platz. Es ist noch nicht ganz Abend geworden, aber ich muss trotzdem an Tom Schulz denken.
Dieser Lidl hat immer geöffnet, jeden Sonntag, jeden Abend. Und dieser Lidl ist Antiprovinz, ein Fest für den Sozialvoyeur. Es gibt nicht noch einmal einen so überfüllten Supermarkt in Berlin. (Vielleicht nur den im S-Bahnhof Friedrichstraße.)
Der Boden klebt, es wanken die Gestalten zwischen dem Wein und den Gurken. Alle Herkunftsländer der Berliner Bevölkerung scheinen dort Agenten zu haben, und der Wachmann am Eingang wechselt täglich. Die Kassiererinnen können nur mit Valium durchhalten, damit sie nicht austicken und den Kunden schwere Waren um den Kopf hauen.
Die Kassiererinnen dort sind immer gut drauf, wenn ich an der Kasse stehe (ich würde innerhalb von fünf Minuten ausrasten, wäre ich in ihrer Position), und sie lachen und machen kleine Scherze mit den Gästen der Unterwelt. Eine wirft den Kassenschlüssel zur anderen, die eine Storno hat; die fängt den Schlüssel mit unbewusster Eleganz. Und draußen hocken die Penner und bitten um ein Bier.
Was für ein Unterschied zu dem gesitteten Penny-Markt meiner Kindheit – dem ersten Discounter, den ich besuchte. Auch daran kann mich erinnern: Mein Vater nahm mich und meinen Bruder dorthin mit. Wir kauften Nussschinken und Karamellbonbons (vielleicht war das auch in einem anderen Laden). Und wir waren überwältigt von der Größe und Vielfalt des Ladens und der Auswahl. Wir kannten bis dato nur das Kaufhaus in der Fußgängerzone, wir hätten nicht gedacht, dass der Kapitalismus auch in aufgeschnittenen Kartons wohnen kann. Kartons voll von Tüten mit Karamellbonbonds.

Mein Vater aß so gerne, vermutlich sogar noch lieber, als dass er trank. Allerdings hat ihn nicht das Essen umgebracht. Das Essen war das Letzte, was er noch genoss, als seine verkrebste Leber schon in seinen Körper ausflockte (ich musste damals an die Hähnchen denken, die ich mit ihm zusammen aus der Tiefkühltruhe hervor gegraben hatte, und in deren kalten Leibern die Leber, das Herz und die Nieren versteckt waren, in ein kleines Plastiktütchen gedrückt).
Als mein Vater schon fast im Sterben lag, sich kaum noch von Bett zu Tisch und von Tisch zu Stuhl hangeln konnte, lud er meinen Bruder und mich zum Spargelessen ein. Es war sein letzter Frühling, und ich kam eine Stunde früher, um die Kartoffeln zu schälen (die alle grün und giftig aussahen). Er mühte sich redlich, den Spargel zu schälen und das Kochwasser für die Kartoffeln aufzusetzen, aber es gelang ihm nur noch unzureichend.
Am Esstisch später (der jetzt bei meinem Bruder steht) saß er ruhig mit unruhigen Augen, und seine Söhne und deren Frauen lobten den Spargel. Und alle tranken viel Wein, bis auf den Vater, dessen Leber schrumpfte.
Ich weiß nicht, ob die Kirchenglocken läuteten, ihren Schall durch die gekippten Fenster gossen wie schweren, hellen Wein. Und wenn sie es denn taten, die Viertelstunden zeigten sie schon lange nicht mehr an.

Am Sande, Lüneburg

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