(Ein Gläschen Südwein neben meinem
Notebook. Südwein, Süßwein, Desertwein – schöne, gluckernde
Worte. Im Moment trinke ich einen Spätburgunder gemischt mit Sherry.
Ich weiß, das hört sich barbarisch an, schmeckt aber gut).
Was mich immer schon gewundert hat ist,
dass sich alle – jedenfalls die Leute in den üblichen Medien –
darüber beklagen, dass die Geburtenrate in Mitteleuropa schwindet.
Ich kann das Problem nicht erkennen, vielmehr ist das doch ein
unfassbarer Vorteil für den Kontinent, der seit dem letzten
Jahrhundert deutlich überbevölkert ist. Alle Landschaften sind
zersiedelt, durchschnitten von Myriaden von Straßen, zugepflastert
und versiegelt mit Beton und Asphalt.
Noch in meiner Kindheit, selbst noch zu
der Zeit, als ich nach Berlin kam, waren die Städte umgeben von
Brachland, Wiesen, Wäldern. Unbehauste Natur. Jetzt stehen dort
Einkaufszentren und Baumärkte. Wenn endlich wieder, in dreißig,
vierzig Jahren, Europa leerer wird, könnten wir ganze Landstriche
der Wildnis zurück geben. Endlich Platz.
Stattdessen jammern alle über die
Rente. Aber wenn durch den Rückgang der Bevölkerung auch die
Kaufkraft schwindet, werden die Waren des täglichen Lebens durch
mangelnde Nachfrage wieder günstiger werden. Und die Renten werden
sogar dazu reichen, ein Haus in Brandenburg zu kaufen, denn diese
Häuser in den verlassenen Dörfern werden schon in zwanzig Jahren
kaum mehr als zwei, drei Monatsgehälter kosten.
Aber anstatt dass diese Gesellschaft
die Möglichkeiten der Leere nutzt, baut sie weiter.
Zur Zeit ist eine Initiative
entstanden, die die Leerflächen des Kulturforums am Potsdamer Platz
schließen will. Sowohl die Matthäuskirche als auch die Neue
Nationalgalerie sollen von Blockbebauung eingefasst werden, und
auch das weite Areal vor der Gemäldegalerie soll weichen. Als hätten
die Alten Angst vor der Leere, der Weite, als würde es sie an ihr
eigenes Verschwinden erinnern.
Wieso erfreuen wir uns nicht an der
Leere, lassen auch Brachflächen wieder zu, die fast alle seit der
Wende verschwunden sind. Kein Mensch braucht all diese Büros.
Und selbst wenn wir uns das in den
Städten nicht leisten wollen, weil die Alten günstige Infrastruktur
brauchen; auf dem Lande könnten wir die Wildnis zurück kehren
lassen. Man würde ganze Dörfer in der Uckermark räumen, die
letzten Bewohner in den Speckgürtel von Berlin umsiedeln – zahlt
man den Leuten ein wenig Geld, wäre das kein großes Problem. Die
ganz Alten sterben bald, die Jüngeren wollen lieber heute als morgen
weg, wenn sie es sich leisten können.
Und sollten dann die Dörfer der
Uckermark geräumt sein, wird das ganze Gebiet umzäunt (ein
freundlicher Eiserner Vorhang) und hinein kommt man nur ohne
Motor-Fahrzeuge, ohne den Plunder des modernen Lebens. Zu Fuß oder
auf dem Pferd darf man dann in das neue, unbekannte Land ziehen. In
die WÄLDER.
Wölfe gibt es dort ja schon; man
könnte noch Luchse ansiedeln, ein paar Wisente, ein paar
Großtrappen. Der Wald wäre sich selbst überlassen, und schon nach
fünfzig Jahren sähe es in dieser Zone aus, wie im frühen
Mittelalter. Ein Dickicht, ein Märchenwald, eine Wildnis.
Und dort würde ich gerne meinen
Lebensabend verbringen, in einer Blockhütte, an einem See. Der
Himmel weit und klar, die Tannen ein einziges, dunkles Rauschen, und
in der Nacht heulen die Wölfe.
Es hört sich romantisch an, es scheint
ein weltabgewandter Traum zu sein, aber es wäre möglich, noch zu
unserer Lebenszeit.
Stattdessen der nächste Baumarkt, das
nächste Maisfeld für die nächsten Großraum-Autos. Wachstum,
Fortschritt, Niedergang.
*
In nichts kann ich mich zur Zeit so
vertiefen, wie in Schach. Neben dem Schreiben ist es das Einzige, bei
dem ich in den flow tauchen kann. Ich leihe mir ein Schachbuch
nach dem anderen aus der Bibliothek und entdecke taktische
Möglichkeiten, die ich auf diesen 64 Feldern nicht für möglich
gehalten hätte. Das Spiel ist eine Mischung aus Krieg und Tanz. Und
ich stolpere mittlerweile nicht mehr ungelenk durchs Feld oder über
den Tanzboden. Stufe 4 von Chess Titans nutze ich nur noch, um
verschiedene Angriffsstrategien zu üben; kaum zu glauben, dass
dieses Level mir vor einigen Wochen noch einige Schwierigkeiten
bereitet hat.
Besonders gut gefällt mir zur Zeit die
Vorgehensweise Karpows im Kandidatenmatch 1974 (ich schrieb bereits
davon). Dieses brachiale Reinhauen mit zwei Türmen und der Dame in
die Königsflanke; wenn der König nicht erfahren genug ist, hat er
nicht den Hauch einer Chance.
Karpow war sowieso ein großartiger
Schachspieler, nicht ohne Grund ist er jahrelang Weltmeister gewesen.
Doch galt er immer als ein etwas farbloser, zurückhaltender Spieler
(habe ich gelesen). Dabei geht er mit einer unglaublichen Eleganz
vor, zwar kühl und wohldurchdacht, und auch ganz ohne spektakuläre
Opfer und dergleichen, aber doch mit einer scheinbaren Leichtigkeit,
die mich völlig fasziniert (jedenfalls in den Partien, die ich
bislang durchgespielt habe).
Ich kann mich gut an ihn erinnern, als
er in dem schwarzweißen Fernsehgerät auftauchte, mit dem in den
70ern Jahren auch Jochen Mass und Muhammad Ali in unser Wohnzimmer
übertragen wurde. Seinerzeit war Schach eine populäre Sportart (ein
Kampf der Gehirne im Kalten Krieg), über alle
Weltmeisterschaftskämpfe von Kasperow gegen Karpow wurde in
verschiedenen Fernsehsendungen berichtet. Ich habe jetzt noch dieses
geheimnisvolle, fremde Gesicht von Karpow vor Augen – ein Mann aus
der Welt hinterm Eisernen Vorhang. Ich mochte dieses Gesicht. Das
Kind, das ich war, mochte dieses Gesicht. Vielleicht habe ich wegen
diesem Gesicht damals angefangen Schach zu spielen (und schnell
wieder aufgegeben). Und es ist nur folgerichtig, ist geradezu eine
späte Verbeugung, dass ich wieder mit Karpows Partien beginne.
Die Dame stand vorher auf e3 |
.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen