Samstag, 26. Mai 2012

Wenn es einen Ort gibt, an dem ich glücklich war, dann im Wintergarten meiner Großeltern. Ich saß dort in einem Korbstuhl als ich ein Kind war, ich schaute hinaus auf die mit Sonnenschein überschüttete Straße – die Stephensonstraat 3 in Den Haag – auf der manchmal ein blinder Mann mit einem weißen Stock vorbei kam. Den hatte ich eines Tages kennen gelernt, als ich auf der Straße spielte. Wir hatten uns auf die Freitreppe eines der mit glasierten Klinkern gebauten Häusern gesetzt, und ich hatte ihn interessiert nach seinem langen, weißen Blindenstock gefragt, und er hatte ihn mir vorgeführt, gezeigt, wie man ihn an einem halben Dutzend Gelenke zusammen falten konnte. Er hatte eine dunkle Brille und war vielleicht dreißig Jahre alt. Ich glaube, er hatte schwarzes Haar und einen hellen Anzug, obwohl es Sommer war und sehr heiß. Ich lief in Nietenhosen und meinem Stars-and-Stripes-T-Shirt durch die Ferien; an der Straßenecke stand ein Haus mit einem kleinen Turm, aus dem eine Glocke läutete, so dachte ich jedenfalls, aber vermutlich kam das tiefe, ruhige und warme Glockengeläut von einer Kirche am Hauptplatz des Viertels – Duinoord, ein Quartier das nur aus Sonne zu bestehen schien.
An der Eingangstür des Hauses wuchs ein Passionsblumenstrauch, auf den meine Großmutter sehr stolz war, und im Flur war es kühl, und die Bodenkacheln machten porzellanhelle Töne, wenn man über sie schritt.
Der Wintergarten lag hinter dem Klavierzimmer, in dem ein weiß lackiertes Klavier stand, auf dem niemand mehr spielte außer mir. Ich klimperte Katzenmusik auf den schwarzen Tasten, und von oben, vom Klavierdeckel her, glotzte mich eine Skulptur an, die mein Großvater gemacht hatte. Neben dem Klavier stand ein chinesisches Tischchen aus durchwirktem Ebenholz, darauf staubten Messinggerätschaften ein. Und dahinter war der Durchgang zum Wintergarten, in dem Bücher in einem Regal langsam ausblichen von den Sonnenstrahlen. Eine dunkelgrüne Kommode stand dort, in der alte Tischdecken aufbewahrt wurden und Spielzeug für die Enkel. Es gab eine Matchbox-Müllabfuhr, eines der wenigen Dinge, die ich heute noch aus meiner Kindheit besitze. Dieses Matchbox-Auto roch ganz phantastisch nach Metall. Jetzt riecht es nach nichts mehr, was vermutlich dem altersbedingten Absterben der Sinne geschuldet ist.
Vor dem Wintergarten war ein winzig kleiner Vorgarten zur Straße hin, ausgelegt mit geharkten Kieseln. Am Rande lagen zwei oder drei Steinplatten aus Waschbeton, unter denen Kellerasseln wohnten, die ich stundenlang beobachten konnte, und die ich meistens auf die Hand nahm, mit einem leichten Gefühl von Ekel, und mit einem leichten Gefühl von Faszination.

Und immer saß ich in diesem Korbstuhl, fernab der Erwachsenenwelt, und las Comics und lutschte Lakritzpastillen. Oder schüttete mir ein Salmiakpulver in den Mund, dass man beim Kaufmann an der Ecke bekommen konnte (ein kühler, schattiger Kaufmannsladen, der auch Sahneeis und Zauberbonbons führte, die beim Lutschen ihre Farben wechselten).
Ich musste heute daran denken, als ich mir das neue Einkaufzentrum auf der Schlossstraße anschaute. Dort gab es ein Schnick-Schnack-Geschäft mit Namen „Xenos“. Eine holländische Firma. Ich wollte dort nur einen Mülleimer kaufen, aber kurz vor der Kasse war ein Regal mit Süßigkeiten aufgebaut, holländischen Süßigkeiten, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte: Pfefferminzbonbons, Salmiakpastillen, Süßholzdragees!

Leider gibt es diesen Wintergarten nicht mehr, oder vielmehr gibt es ihn noch als Ort, aber er gehört jetzt anderen Menschen, denn die Großeltern sind lange schon tot, er ist jetzt blitzblank und durchlässig, und nicht mehr abgeschieden von der Erwachsenenwelt. Auch habe ich dort keinen Korbstuhl gesehen, als ich vor einigen Jahren noch einmal in der Stephensonstraat war.
Es ist eine teure Ecke geworden, die Häuser setzen keinen Staub und keine Flechten mehr an. Es wohnen dort nun Leute, die es sich leisten können.

Nachdem ich das letzte Mal die Stephensonstraat verlassen hatte, ging ich zur Trambahn-Haltestelle und wartete im Sonnenschein. Ich schaute über die Brüstung der Brücke, auf der die Haltestelle lag, zu den Hausbooten hin, die ich schon als Kind geliebt hatte, auf die steinerne Skulptur einer Mutter mit ihren steinernen Kindern, die die Mitte der Brüstung zierte, und von der meine Großmutter immer erzählt hatte, das wäre sie mit meiner Mutter und meiner Tante; und um mich herum versank die Welt und wurde gleichzeitig ganz klar und durchlässig. Auch ich wurde durchlässig in diesen Minuten bevor die Tram eintraf. Alles brannte sich ein, wurde zu einer Erinnerung, wie man sie so unmittelbar nur aus der Kindheit kennt.
Schon als ich drei, vier Jahre alt war, hatte ich an dieser Haltestelle gestanden, und mir die unschätzbar vielen Fahrkarten aus dickem, braunen Karton angeschaut, die im Gleisbett lagen, zwischen noch mehr Zigarettenkippen. Fahrkarten aus holziger Pappe, mit einem schmalen, roten Streifen quer durch die Mitte, und mit Entwertungsstempel an der Seite.

Wie echt die Erinnerung wirkt, wie nah. Aber es sieht dort alles anders aus jetzt, zwar nicht so anders wie an einer beliebigen Ecke von Berlin, es sind dort die Einzelheiten noch zu erkennen, bis vor wenigen Jahren gab es sogar den Korbstuhlladen im Souterrain an der Ecke, selbst die winzige Tankstelle mit den zwei Tanksäulen auf dem Fußgängersteig habe ich noch im erwachsenen Alter gesehen, aber trotzdem hat sich alles gewandelt. Zudem war ich nicht mehr dort, seit meine Mutter vor sechs Jahren starb, meine alte Mutter, die ihre letzte Zeit wieder in der Heimat verbrachte, nach Jahrzehnten der Grammatikfehler im Land meiner Geburt. Das ist keine Heimat mehr, aber manchmal denke ich, wenn ich sterben müsste, dann vielleicht doch im Wintergarten in der Stephensonstraat 3.

Von der Haltestelle aus konnte man den Weg zum Meer einschlagen, am Kanal mit den Hausbooten entlang, der Sonne entgegen, vorbei an einer pop-art-bunt bemalten Riesenskulptur, der ich immer aus dem Ford Taunus meines Vaters zuwinkte. Vorbei an einem Karatestudio in einem leicht runtergekommen Haus, in dem mein Onkel trainiert hatte bevor ich geboren wurde, immer weiter den Kanal entlang, bis man nach Scheveningen kam, über die Dünen stapfte (nachdem man an einem Wasserspender getrunken hatte, der zwischen Parkplatz und Dünenweg stand), und endlich die See sah, die Wellenbrecher aus schwarzen, glänzenden Steinen.

Ich habe vor einigen Jahren eine Serie von Viewmaster-Scheiben bei Ebay ersteigert, 3-D-Dias, die man mit einem grauen Bildbetrachter anschaute. Photographien von Scheveningen in den späten 60ern. Es war, als schaute ich in mein Gehirn, in den Bildspeicher meines Gedächtnis. Ich wäre so gerne in das Bild hinein gesprungen, auf den glühenden Sand des Strandes, hin zu der Bude, in der es Fritten mit Erdnusssoße und gesalzene Chips gab (in Deutschland zu der Zeit eine Rarietät, dort kannte man nur Paprika).

Ich vermisse den Strand, die gebackenen Muscheln am Hafen, die glühende Haut am Abend, wenn ich nach dem Essen, in der Dämmerung, mich in den Korbstuhl setzte. Ich vermisse so sehr diesen Wintergarten meiner Großeltern. Und meine Großeltern vermisse ich. Und meine Eltern. Und mich.

Der Wintergarten

Louise Tielens (geb. Van den Acker), Jan Tielens

Am Hafen in Scheveningen

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3 Kommentare:

  1. Das habe ich gern gelesen, Florian, - ich erinnere mich an den Ententeich am Ende der Lijsterbeslaan in Hilversum, wo ich viele Ferientage bei meiner Tante verbrachte. Wir gingen allein runter zum Teich, mein Cousin und ich, wir waren etwa 6 und 7 Jahre alt und die Enten hatten lauter gelbe Entenkinder, der ganze Seitenstreifen war voll mit gelben flauschigen Flecken, wir versuchten, eines zu fangen, das war sehr abenteuerlich, denn die großen Enten zeigten sich natürlich angriffslustig, ich war wirklich hoch ambitioniert, eines bei uns in die Badewanne zu bekommen und schaffte es auch, es zu erwischen, damit wegzurennen. Sie folgten uns nicht über die Straße, die Entenmütter... so konnten wir das Badeentchen in Ruhe betrachten... Ich werde es nicht vergessen, wie ich das kleine gelbe Ding in einer Falte meines T-Shirts transportierte. Die Sonne schien und Holland war mein Lieblingsland. Es gab Vla zum Nachtisch und Matjes auf dem Markt, die Erwachsenen genehmigten sich jedesmal einen, direkt von der Hand in den Mund....
    Mein Onkel war ein angesehener Antiquitätenhändler, ich meine, echte Antiquitäten, nicht Retro Fashion....es gab diesen Schrank auf dem Dachboden, in dem uralte Kirchenreliquien verstaubten, ich dachte damals, es muss verboten sein, die zu besitzen, sie sahen sehr wertvoll aus....wir zogen uns heimlich die violetten Roben an und spielten Kirche, das war, heute betrachtet, ziemlich schräg.... Ach so, was mit dem Badeentchen geschah? Ja - leider war es der Tante eher verdächtig, dass mein Cousin und ich gemeinsam zur Mittagszeit in die Badewanne steigen wollten und als sie entdeckte, dass sich etwas unter meinem Shirt bewegte, flog der ganze Enten-Raub auf. Einer der großen Cousins trug es zurück und für uns gab es eine Standpauke. Dabei hatten wir geschworen, sie aufzuziehen und immer gut zu ihr zu sein... Mein Onkel ist heute ein toter Onkel. Ich sah ihn im letzten Jahr poliert und aufgebahrt im Kondolenzhaus, er schien mir selbst eine Antiquitäte geworden zu sein... viele kamen, sich von ihm zu verabschieden...Er war ein schöner Mann. Ein bisschen zu hoch gewachsen und voller Charme und Regelwerk und immer unerreichbar nobel....
    Kondolenzhaus: auch etwas, was es in Deutschland leider nicht gibt.

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  2. Ja, Vla! Und danke, Jinn, für die wunderschöne Ergänzung.

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  3. Da fällt mir doch ein echtes (!) Gedicht ein:


    O wüßt ich doch den Weg zurück,
    Den lieben Weg zum Kinderland!
    O warum sucht' ich nach dem Glück
    Und ließ der Mutter Hand?

    O wie mich sehnet auszuruhn,
    Von keinem Streben aufgeweckt,
    Die müden Augen zuzutun,
    Von Liebe sanft bedeckt!

    Und nichts zu forschen, nichts zu spähn,
    Und nur zu träumen leicht und lind;
    Der Zeiten Wandel nicht zu sehn,
    Zum zweiten Mal ein Kind!

    O zeig mir doch den Weg zurück,
    Den lieben Weg zum Kinderland!
    Vergebens such ich nach dem Glück,
    Ringsum ist öder Strand!


    Sehr schön von Brahms vertont übrigens.

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