Donnerstag, 2. April 2020


TOTENSOMMER [8]

+++ Live-Kolportage-Roman aus dem Jahr 2020 +++


5. Kapitel


Das Haus war so runtergekommen, wie er es in Erinnerung hatte.
Drei von sechs Räumen waren leer, nur alte Blümchen-Tapete hing traurig von den Wänden und Mäusekot lag in den Ecken. Im Zimmer unterm Dach hatte es rein geregnet und der Dielenboden war aufgequollen.
Im Erdgeschoss waren nur die Küche, das Wohnzimmer und eine kleine Schlafkammer nutzbar. In der Küche stand eine antike Kochmaschine, die man mit Holz beheizen konnte, ein wackeliger Tisch mit Resopal-Platte  und vier Stühle, aus deren Sitzflächen der Schaumstoff rauskam. Die Kammer wurde fast vollständig von einem alten Doppelbett eingenommen, dessen Federbetten nach Muff und dem Fett der Gänsedaunen rochen. Nur das Wohnzimmer sah einigermaßen wohnlich aus. Ein Sofa aus der Vorkriegszeit stand neben dem großen Fenster zum Garten, drei Sessel mit erbsgrünen Polstern waren um einen niedrigen Tisch aus Eichenholz gruppiert und zwischen zwei Bücherregalen hing ein Ölbild mit einer Waldszene, die gar nicht mal so kitschig wirkte. In den Regalen stapelten sich Bücher und Zeitschriften, ein halbes Dutzend Nippes-Figuren aus Porzellan und ein Wählscheiben-Telefon.
Georg sah sich die Bücher an und blies Staub von den Rücken: drei Bände Lenin, das Kapital von Marx und Engels, zwei Kochbücher, sehr viele Kriminalromane von Edgar Wallace und Agatha Christie, eine Reihe mit Klassikern der Weltliteratur und ein Taschenbuch-Lexikon in zwölf Bänden. Er dankte seinem Schöpfer, dass er seinen Kindle mitgenommen hatte.

Es war kalt im Haus, deswegen ging er raus zu einem kleinen Schuppen, der windschief an der Hausmauer lehnte, und holte eine handvoll Holzscheite. Zurück nahm er den Weg um das Haus, damit er den Garten begutachten konnte. 
Hauptsächlich waren es Disteln und Giersch, die die Beete und Rasenflächen überwuchert hatten. An den Zäunen, die das Grundstück einhegten, stand dichtes Gestrüpp und die zwei Linden inmitten des Gartens waren seit Jahren nicht mehr beschnitten worden. Das Ganze sah völlig verwildert aus. Immerhin würden sich darüber die Nachbarn nicht beschweren, weil das Haus zurückgesetzt am Rand der Ortschaft stand, hinter den Zäunen schlossen nur Felder und brachliegende Weiden an. Das nächste Haus war gut hundert Meter entfernt die Dorfstraße runter.
Georg ging wieder rein und heizte den Kachelofen im Wohnzimmer an. Die kackbraun glasierten Kacheln wurden schnell warm, der Ofen zog vermeintlich gut, aber als der Wind auch nur ein bisschen auf den Schornstein drückte, war der Raum sofort mit dichtem Rauch gefüllt.
„Verdammt!“
Georg riss die Fenster auf und versuchte, möglichst flach zu atmen. Das Landleben – ein Grauen. Aber vermutlich besser, als in der Großstadt eingeschlossen zu sein.
Während der Rauch abzog ging er zur Leiter im oberen Stockwerk und kletterte zum Kriech-Speicher hinauf. Gebückt konnte er sich gerade noch bewegen und schaute sich um. In einer Ecke stand eine eingestaubte Kommode und unter der kleinen Dachluke ein steinaltes Fernsehgerät. Nordmende, sicherlich 40 oder 50 Jahre alt, vermutlich sogar noch in Schwarzweiß.
Georg zog nacheinander die drei Schubladen der Kommode auf: zerfledderte Wanderkarten, rostiges Werkzeug, mottenzerfressene Decken und zwanzig Rollen Klopapier aus DDR-Produktion. Auf der Banderole stand Werra-Krepp.
„Besser als nichts“, murmelte er.
Dann ging er wieder runter und packte seine Sachen aus. Der Rauch hatte sich mittlerweile verzogen und die Holzscheite hatten eine so große Hitze entwickelt, dass die Luft im Schornstein zuverlässig nach oben gedrückt wurde.
Georg nahm sein Laptop und ließ sich in die Sofa-Polster sinken. Die Eisenfedern knarrten und quietschten.

Als der Abend anbrach, hatte er genug Nachrichten über die Corona-Krise gelesen und startete ein Videogame. Wenn draußen in der wahren Welt nur Seuchen und Verdammnis zu finden waren, schien ihm die beste Alternative, in die Wirklichkeit eines Spiels abzutauchen.
Risen stand auf dem Start-Screen und Georg wählte den niedrigsten Schwierigkeitsgrad. Er wollte entspannen, wollte ferne Länder sehen, Monster mit einem Schwertstreich in die Hölle schicken. Er wollte jetzt Eskapismus! Realitätsflucht bis zum Abwinken!
Das Spiel begann und er fand sich in einer Bucht am Meer wieder. Die Wellen schlugen wild ans Ufer und der Gewitterhimmel wölbte sich zerklüftet über dem Wasser.
Am Ende der Bucht breitete sich ein üppiger Dschungel aus, in dem sicher gefährliche Ungeheuer lauerten.
Georg schaute sich um, indem er die Maus nach links und rechts bewegte. Am Ufer lagen tote Matrosen, die wie er Schiffbruch erlitten hatten, aber nicht so gut weggekommen waren, die nicht Helden dieses Spiels sein durften, nur leblose Charaktermodelle im pixeligen Sand.
Er durchsuchte ihre Taschen und sackte Goldstücke, Rum-Flaschen und ein Entermesser ein. Dann stieß er auf eine Frau, die ebenfalls im Sand niedergestreckt lag, die aber offenbar noch nicht ihr Leben ausgehaucht hatte. Ihr Name war Sara und sie suchte seinen Schutz.

Nachdem er drei Stunden lang Monster geschnetzelt hatte, war es immer noch Tag und er ließ sich zu einem Spaziergang hinreißen, auch wenn er es eigentlich vermeiden wollte, irgendwelche Dörfler zu treffen.
Die Sonne stand knapp über den Dachfirsten und schickte ihre grellen Strahlen die Ernst-Thälmann-Straße hinab. Das Kopfsteinpflaster glänzte im Licht und das schlichte Stahlkreuz, dass auf dem Zweckbau der Kirche stand, wurde von einer Aureole umgeben.
An der Fassade des Gotteshaus war in Mosaiktechnik ein Sinnspruch eingelassen. Herr bleib bei uns, denn es will Abend werden. Merkwürdig, dass in einem sozialistischen Land offensichtlich noch in den frühen 60er Jahren neue Gotteshäuser gebaut worden waren, zumal in so einem Kaff wie Grautow.
Georg näherte sich der Kirche, ging am Dorfanger vorbei, auf dem eine einsame Ente paddelte und ab und an den Kopf unter Wasser streckte, um nach einem Fisch zu schnappen. Georg legte die Stirn in Falten – aßen Enten überhaupt Fisch? Er wusste es nicht, er war ein Großstadtkind.
Die Kirchentür war verrammelt, die Fenster von innen mit Pappe abgedeckt. Nur an einem war ein Spalt zwischen Pappe und Fensterrahmen. Georg drückte die Nase an die Scheibe und linste durchs Glas. Nichts zu erkennen, außer Schatten die sich auf Schatten türmten.
Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter.
„Verzeihung, darf ich stören?“
Georg drehte sich abrupt um und schaute in das lächelnde Gesicht des älteren Mannes, den er schon bei Edeka gesehen hatte, der ihn dort vor den geifernden Dorfbewohnern in Schutz genommen hatte, jedenfalls ein wenig.
Der Mann streckte ihm die Hand entgegen.
„Friedrich Reißer. Sie müssen nochmals entschuldigen, dass Jennifer Sie so angegangen ist. Sie hat es wirklich nicht leicht.“
Georg schaute ihn kühl an.
„Wer immer diese Dame auch ist, sie hat sich schwer im Ton vergriffen, würde ich sagen.“
Reißer nickte.
„Ja, hat sie. Aber das liegt an der Anspannung, an der Angst. Die Krankheit … erfüllt sie mit Schrecken. Jennifer ist kaum noch sie selbst.“
Georg zuckte die Schultern. Er wollte eigentlich gar nicht über diese impertinente Person reden. Aber er konnte kaum das Gespräch abbrechen, ohne mehr als unhöflich zu sein.
„Wieso? Diese Jennifer ist doch noch jung. Kaum Dreißig, würde ich schätzen.“
Wieder nickte Reißer.
„Aber sie lebt mit ihrem alten Vater zusammen. Dort vorne, in dem alten Haus.“
Er deutete auf ein Fachwerkhaus, das etwas zurückgesetzt von der Straße stand und von wildem Flieder und hohem Farn umgeben war. Es sah fast ein wenig verwunschen aus.
„Sie müssen das verstehen, Herr ...“
„Georg, Sie können mich Georg nennen.“
„Fein, ich bin der Fritz.“
Wieder streckte er ihm die Hand entgegen und dieses Mal nahm sie Georg und schüttelte sie.
„Jennifers Vater war früher im Bergbau tätig“, sagte Reißer. „Wismut AG, in Schneeberg und Oberschlema. Hat Uran abgebaut, der Rüdiger, gut drei Jahrzehnte, später auch Quecksilber. Ich kann Ihnen sagen, dass hat seiner Lunge nicht gut getan. Silikose!“
Georg schaute ihn verständnislos an.
„Silikose?“
Reißer klopfte sich auf den Brustkorb und verzog den Mund.
„Staublunge. Kann kaum noch schnaufen, der Rüdiger. Liegt fast den ganzen Tag im Bett. Jennifer versorgt ihn. Und sie hat Angst um ihn. Ist ihr letzter Angehöriger.“
„Und die Mutter“, fragte Georg.
„Traurige Geschichte“, sagte Reißer. „Hat auch für die Wismut AG gearbeitet, als Sekretärin, ist trotzdem an Lungenkrebs gestorben, zu viel Radon vermutlich.“
Er zögerte kurz und strich sich fahrig seine dünnen, stahlgrauen Haare zurück.
„Geraucht hat sie natürlich auch, Cabinet, manchmal auch Juwel. Die gute Astrid. War eine Dorfschönheit. Jeder war hinter ihr her. Aber Rüdiger hat das Rennen gemacht.“
„Interessant“, sagte Georg zögerlich.
„Ist dann gestorben, nicht lange nach der Wende und ein halbes Jahr nach Jennifers Geburt. Tragische Sache, wie ich schon sagte.“
„Ja“, sagte Georg.
Reißer schaute ihn betrübt an.
„Und was machen Sie so“, fragte Georg.
Das Gesicht des alten Mannes erhellte sich.
„Oh, ich war hier früher mal der Pfarrer. Das ist meine Kirche. Ist sie jedenfalls gewesen, bis vor fünf Jahren. Seitdem bin ich in Rente und schreibe an einem Buch.“
„An einem Buch?“
„Über die Geschichte des Landkreises Grautow.“
Georg schaute ihn verblüfft an.
„Das Kaff hat einen eigenen Kreis?“
Reißer nickte eifrig.
„Ja, sicher, es gehören noch drei Gemeinden dazu. Frießnau, Schwedfurt und Schwallow. War alles Teil meines Sprengels. Hab ihn allen Kirchen gepredigt, immer abwechselnd, an jedem Sonntag in einer anderen. Tempi passati. Jetzt stehn sie alle leer. Keiner will mehr auf dem platten Land eine Gemeinde betreuen. Schade drum.“
Georg nickte höflich.
„Aber jetzt muss ich weiter“, sagte Reißer. „Will noch nach dem Adler schauen.“
Er tippte auf ein Fernglas, das vor seiner Brust baumelte.

Nachdem sich Georg in den Feldern hinter dem Dorf noch ein wenig die Beine vertreten hatte, kehrte er zurück in sein Haus.
Mein Haus, dachte er, wohl kaum. Andererseits – irgendwann gehört das alles dir, mein Sohn. Unwillkürlich musste er grinsen.
Dann ging er in die Küche, öffnete das Fenster und lauschte. Hier war es so still wie in der Großstadt. Die Corona-Krise machte jeden Teil des Landes zu einem Ort ohne viel Geräusche. Aber es war eine Stille, die ihn in der Stadt nervös machte, hier hingegen ließ sie ihn zur Ruhe kommen. Vorerst jedenfalls.
Er ging zum Herd, heizte mit drei Scheiten Holz an und machte sich eine Dosensuppe warm. Chinesischer Hühnereintopf Bihun.
Nachdem er sie in eine angeschlagenen Schüssel gekippt hatte, setzte er sich ins Wohnzimmer ans Fenster und klappte sein Notebook auf.
Lust zu zocken hatte er nicht, er konnte jetzt einfach nur schwer die künstliche Natur in dem Videospiel ertragen. Stattdessen öffnete er Skype und rief seine Mutter an. Tante Gesche erschien innerhalb von Sekunden auf dem Bildschirm.
„Georg! Was für eine Freude“, rief sie.
Er verschluckte sich fast an seiner Bihun-Suppe.
„Sag mal, Tante Gesche, du musst dir wirklich abgewöhnen, einfach so den Account deiner Schwester zu nutzen. Das ist privat.“
„Papperlapapp“, sagte Gesche. „Wir sind doch fast wie Zwillinge. Zwischen uns passt nicht mal ein Blatt Papier.“
Georg seufzte laut auf.
„Und? Wie geht es dir, Tante Gesche?“
Sie steckte sich eine Kim zwischen die Lippen und entzündete sie mit einem eleganten Feuerzeug aus Silber.
„Ach, Georg, wird schon. Mir geht‘s prächtig.“
„Und wo ist Mama?“
Gesche wiegte den Kopf bedächtig hin und her.
„Die ist einkaufen. Schon seit Stunden. Ich glaube, sie versucht mich zu meiden. Warum auch immer.“
Ihre Mundwinkel zuckten melancholisch. Georg befürchtete beinahe, dass sie im nächsten Moment in Tränen ausbrechen könnte. Tante Gesche hatte eine dramatische Ader und war gut in solchen Dingen.
Schnell versuchte Georg sie abzulenken.
„Und was machst du so, den lieben langen Tag, Tante Gesche?“
Sie zog die Augenbrauen nach oben.
„Was ich so mache? Ich mache mir Gedanken ...“
„Und was für welche?“
Sie schob sich eine glänzend schwarze Strähne aus der Stirn und zog an ihrer Damen-Zigarette.
„Das willst du wirklich wissen?“
„Sonst würde ich ja nicht fragen.“
„Also gut“, sagte sie. „Dann will ich dir meine Gedanken nicht vorenthalten.“
Gesche machte eine bedeutsame Pause.
„Hast du schon von der Heuschreckenplage in Afrika gehört?“
„Ja, hab ich. Stört es dich, wenn ich esse?“
Er ahnte schon, was kommen würde.
„Nein, gar nicht. Du musst ja bei Kräften bleiben, gerade in Zeiten wie diesen.“
Sie drückte ihre halb aufgerauchte Kim aus.
„Diese Heuschreckenplage ist jedenfalls ein Zeichen, davon bin ich fest überzeugt. Und jetzt diese grässliche Krankheit! Die Verrohung der Sitten, die Erderwärmung!“
„Was hat denn jetzt die Erderwärmung damit zu tun?“
„Kind, ich glaube nicht, dass du das wirklich verstehen kannst, aber das alles ist ein Zeichen Gottes. Es geht auf das Ende zu!“
Georg löffelte weiter seine Bihun-Suppe.
„Ach, Tante Gesche, wieso sollte Gott denn die Heizung aufdrehen?“
„Weil wir in Sünde leben!“
Ihr Gesichtsausdruck duldete keine Widerrede.
„Wir haben uns von Gott abgewandt. Das ist nun seine Art, wieder auf sich aufmerksam zu machen. Es werden bald die Posaunen im Himmel erschallen!“
Georg legte den Löffel beiseite und musterte seine Tante skeptisch.
„Das würde mich wundern.“
„Denk an meine Worte, Georg. Denk an meine Worte, die letzten Tage sind angebrochen!“

Später zog er sich in eine dunkle Ecke des verwilderten Gartens zurück. Die Sonne war schon hinter dem Horizont verschwunden, aber noch immer strahlten die Schichten des Himmels in glühenden Farbtönen von Orange über Rot zu Violett. Als wäre am anderen Ende der Welt ein Vulkan ausgebrochen und seine Asche würden in den oberen Schichten der Atmosphäre treiben, dachte Georg. Wie vor 200 Jahren, als Mary Shelley über das menschliche Monster schrieb, in einem Jahr ohne Sommer, an einem See in der Schweiz, als der Vulkan Tambora im fernen Java ausgebrochen war und das abendländische Firmament eingefärbt hatte.
Georg glaubte, jetzt unter einem ähnlichen Himmel zu sitzen, auch wenn er ihn nie würde beschreiben können wie ihn Mary Shelley beschrieben hatte, in ihrem Roman über den neuen Prometheus, dessen Name Frankenstein war.
Langsam dunkelte der Himmel ein und Georg nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Er hatte in einer Kammer den Vorrat Onkel Karls entdeckt und sich zwei Flaschen Rotwein von der Krim gegriffen, die schwer nach Kopfschmerzen schmeckten.
Er trank, bis der Himmel schwarz geworden war, er trank, bis er nicht mehr konnte.

Am nächsten Morgen wachte er verkatert auf und griff als Erstes nach seinem Handy, dessen Diode eine neue Nachricht signalisierte. Es war eine SMS von Jonas.
„Hi Georg, ich kann morgen leider doch noch nicht kommen. Ich bin da an was dran, was mich endlich sanieren könnte. Kohle ohne Ende. Aber ich werd dich später besuchen, in deinem Provinzkaff. Und dann bring ich Champagner mit! Bis dahin: halt die Ohren steif, altes Kaninchen. LG Jonas ...“
Georg schälte sich aus den Laken und ging in die Küche. Da es im Haus kein Bad gab, wusch er sich an der Spüle. Dann machte er sich einen Kaffee mit der DDR-Kaffeemaschine, die brodelte wie ein Geysir.
Er setzte sich mit seinem E-Bookreader in den Garten und las ein wenig in einem Buch von H.P. Lovecraft, aber sein Kopf war noch von dem krim‘schen Rotwein so vernebelt, dass er es bald aufgab. Stattdessen schloss er die Augen und ließ sich die Morgensonne ins Gesicht scheinen.
Sein Kopf war völlig leer. Kurz vorm Satori, dachte er. Man brauch gar nicht zu meditieren, man muss nur genug saufen.
Ein Insekt summte an seinem Ohr vorbei, er öffnete die Augenlider zu Schlitzen. Das war eine Hummel, die gemächlich durch die Luft tuckerte, auf dem Weg zu besseren Blumen.
Georg stand auf und schaute über die Felder. Hier war wirklich nichts heile geblieben, was man Natur nennen konnte. Felder um Felder, die meisten brach liegend. In der Ferne ein paar Wellblech-Baracken, vermutlich alte Silos für Getreide. Strommasten und Windräder. Ab und an ein Baum an buckeligen Landstraßen. Nur der Himmel wirkte noch echt. Unverdorben, ungeschändet.
Was machte er eigentlich hier? Georg spuckte über den Zaun. Wieso bin ich in die Provinz geflohen? Hier werde ich an Langeweile sterben. Wenn mich nicht diese Jennifer mit der Mistgabel aufspießt.


6. Kapitel

Die Wochen zogen gleichförmig ins Land. Der Rest des März erst, dann der ganze April.
Jonas schickte alle paar Tage eine SMS, in der stand, dass er später kommen würde. Mit einem Haufen Kohle.
Georg spürte, wie mehr und mehr das Leben aus ihm wich. Er fühlte sich nicht krank oder schwach, aber sein Gehirn schaltete jeden Tag einen weiteren Gang runter, bis ihm selbst komplexere Videospiele zu viel wurden. Er hatte tagelang in Anno 1404 an einer mittelalterlichen Stadt gebaut, Warenkreisläufe optimiert, sinnlose Aufträge für den Kaiser erfüllt, doch irgendwann war sein Geist so stumpf geworden, dass er nur noch mordend durch Skyrim zog und Banditen mit der mächtigen Barbaren-Axt köpfte.
Immerhin ließ er die Finger vom Krim-Wein, so dass er die Tage relativ frisch damit verbrachte, ausgedehnte Wanderungen in der Umgebung zu machen. Er schaute sich die Sehenswürdigkeiten der Käffer an. In Schwallow gab es ein Heimatmuseum in einer Scheune, in dem eine kaputte Kutsche aus dem 18. Jahrhundert präsentiert wurde und ein Butterfass unbekannter Herkunft. Dazu einige Stiche von Landschafts-Szenen, die vage etwas mit den Dörfern des Kreises zu haben sollten.
Da war der alte Wenden-Friedhof bei Schwedfurt schon interessanter. Es standen dort zwar nur drei Grabsteine und die waren auch noch so verwittert, dass man die Inschriften nicht entziffern konnte, aber immerhin: ein Wenden-Friedhof. Sogar mit einer Informationstafel am Eingang. Aber auch die konnte Georg nicht lesen, weil die Dorfjugend sie mit ihren Tags zugesprüht hatte.
Was gab es noch zu tun?


[Abgebrochen]


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