Montag, 23. März 2020



TOTENSOMMER [2]

+++ Live-Kolportage-Roman aus dem Jahr 2020 +++


2. Kapitel

Zurück in seiner Wohnung schien Georg wieder alles normal. War etwas? Es waren doch keine Sirenen zu hören, kein ABC-Alarm, keine Alien-Raumschiffe kreisten über den Dächern Berlins. Konnte es wirklich sein, dass eine katastrophale Welle von Viren über das Land branden und alles auslöschen würde?
Während er die Einkäufe in seine winzige Speisekammer räumte hörte er Radio. Der Nachrichtensprecher sprach von tausenden Toten in Italien und dass auch in Deutschland mit unzähligen Opfern der neuen Krankheit zu rechnen sei. Es wurde bereits von Triage berichtet.
Triage? Hörte sich in seinen Ohren an wie ein schlechter Popsong aus den 80ern. Triage, Triage, you came into my life like a hammer in a store window

Auf dem obersten Regalbrett der Speisekammer vertrocknete seit Tagen das letzte Stück eines Apfelkuchens, den seine Mutter gebacken hatte. Er war letzte Woche mit DHL angekommen und Georg hatte den größten Teil pflichtschuldig gegessen, obwohl seine Mutter eine grauenhafte Bäckerin war. Zu wenig Zucker, zu viel Zimt und die Apfelscheiben waren matschig und fad.
Wie es ihr wohl gehen mochte? Sicher hatte sie sich in ihrer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung in Schöneberg verbarrikadiert und schaute rund um die Uhr NTV oder Phönix. Oder, schlimmer noch, Verschwörungs-Videos auf Youtube.
Sie war schon immer eine kluge Frau gewesen, aber ihre Intelligenz war ungerichtet, ziellos. Bis vor wenigen Jahren, als sie noch als Verkäuferin beschäftigt gewesen war, hatte die Arbeit sie halbwegs von ihren kruden Ideen abgehalten. Aber seit sie in Rente war, hatte es kein Halten mehr gegeben.
So vieles war in ihrem Leben schief gelaufen und das hatte sie bitter gemacht. Ihr Ehemann hatte sich kurz nach Georgs Geburt abgesetzt, wenig später hatte sie ihre Anstellung in einem Hertie-Warenhaus verloren, wo sie als Verkäuferin in der Damenbekleidung gearbeitet hatte. Das war 1993 gewesen. Danach blieben ihr nur noch Jobs an den Kassen diverser Supermärkte. Penny, Aldi, Bilka, Bolle – davon war sie so sehr ausgelaugt worden, dass sie vor vier Jahren vorzeitig in den Ruhestand gegangen war. Und seither beschäftigte sie sich mit Themen wie Die hohle Erde oder Versunkene Zivilisationen auf dem Mars.

Georg gab sich einen Ruck und fuhr sein Notebook hoch. Er musste einfach seine Mutter kurz sprechen und schauen, ob es ihr gut ging. Er öffnete Skype und pingte sie an.
Keine drei Sekunden später logte sich seine Mutter ein und ihr asthmatisches Husten war zu hören, aber noch kein Bild zu sehen.
„Mama, du musst die Kamera einschalten!“
„Moment ...“
Ihr keuchender Atem näherte sich dem Mikrofon und Georg konnte sie auf der Tastatur herumfuhrwerken hören. Das war doch hoffentlich nur das Asthma?
Plötzlich erschien ihr Gesicht auf dem Bildschirm. Nase und Mund waren merkwürdig verzerrt, weil sie zu nah an der Webcam stand, und ihre Augen blinzelten müde hinter den dicken Brillengläsern.
„Mama, geht‘s dir gut? Du bist doch hoffentlich nicht krank?“
Sie lächelte schwach und ließ sich in ihren Sessel plumpsen, den sie neben den Schreibtisch gerückt hatte.
„Nein-nein, nur Heuschnupfen. Die Pollen sind dieses Jahr besonders früh dran. Wegen des milden Winters. Weißt du, Georg, wenn dieses Virus uns nicht umbringt, dann der Klimawandel.“
„Seit wann glaubst du denn an den Klimawandel“, fragte Georg entgeistert.
„Man wird ja wohl noch seine Meinung ändern dürfen, oder?“
Sie wirkte aufrichtig empört und nahm die Brille ab, wischte sich fahrig über Stirn und Augen.
„Du siehst müde aus, Mama.“
„Ach, das täuscht. Ich bin einfach noch nicht geschminkt. Hat der Apfelkuchen geschmeckt?“
Georg nickte in die Kamera.
„Ja, sehr gut. Ein bisschen weniger Zimt beim nächsten Mal ...“
„Ist notiert, mein Junge. Und was hältst du von der ganzen Sache.“
„Keine Ahnung, Mama. Kommt mir alles unwirklich vor. Und du? Hast du Angst?“
Sie schüttelte langsam aber entschieden den Kopf.
„Weißt du, es ist merkwürdig. Früher hatte ich ja immer Angst, vor jedem Pieps. Drama, Drama, Drama! Aber jetzt, wo alles den Bach runtergeht, da bin ich ganz gelassen. Ich bin die Ruhe selbst!“
Georg kam ein beunruhigender Verdacht. Sie hatte doch nicht etwa wieder mit Tranquilizer angefangen?
„Bei dir ist also alles in Ordnung? Du musst keine Medikamente nehmen?“
„Georg!“
Jetzt war sie wirklich empört.
„Das liegt doch schon Jahre zurück. Ach, was sag ich, Jahrzehnte! Das Zeug werd ich nie wieder anrühren! Mach dir mal keine Sorgen.“
Vorwurfsvolles Schweigen von ihrer Seite. Georg konnte im Hintergrund eine Tür aufgehen hören.
„Ist da etwa jemand bei dir?“
Sie schaute ihn unschuldig an.
„Ja, Gesche. Sie ist auf Besuch.“
Wieder war es an Georg, entgeistert zu sein.
„Tante Gesche ist bei dir?“
„Ja, warum denn nicht. Immerhin ist sie meine Schwester. Meine einzige Schwester!“
„Aber du kannst sie nicht ausstehen!“


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