TOTENSOMMER [2]
+++ Live-Kolportage-Roman aus dem Jahr 2020 +++
2. Kapitel
Zurück
in seiner Wohnung schien Georg wieder alles normal. War etwas? Es
waren doch keine Sirenen zu hören, kein ABC-Alarm, keine
Alien-Raumschiffe kreisten über den Dächern Berlins. Konnte es
wirklich sein, dass eine katastrophale Welle von Viren über das Land
branden und alles auslöschen würde?
Während
er die Einkäufe in seine winzige Speisekammer räumte hörte er
Radio. Der Nachrichtensprecher sprach von tausenden Toten in Italien
und dass auch in Deutschland mit unzähligen Opfern der neuen
Krankheit zu rechnen sei. Es wurde bereits von Triage berichtet.
Triage?
Hörte sich in seinen Ohren an wie ein schlechter Popsong aus den
80ern. Triage, Triage, you came into my life like a hammer in
a store window …
Auf dem obersten Regalbrett der Speisekammer vertrocknete seit Tagen
das letzte Stück eines Apfelkuchens, den seine Mutter gebacken
hatte. Er war letzte Woche mit DHL angekommen und Georg hatte den
größten Teil pflichtschuldig gegessen, obwohl seine Mutter eine
grauenhafte Bäckerin war. Zu wenig Zucker, zu viel Zimt und die
Apfelscheiben waren matschig und fad.
Wie es ihr wohl gehen mochte? Sicher hatte sie sich in ihrer kleinen
Zwei-Zimmer-Wohnung in Schöneberg verbarrikadiert und schaute rund
um die Uhr NTV oder Phönix. Oder, schlimmer noch,
Verschwörungs-Videos auf Youtube.
Sie war schon immer eine kluge Frau gewesen, aber ihre Intelligenz
war ungerichtet, ziellos. Bis vor wenigen Jahren, als sie noch als
Verkäuferin beschäftigt gewesen war, hatte die Arbeit sie halbwegs
von ihren kruden Ideen abgehalten. Aber seit sie in Rente war, hatte
es kein Halten mehr gegeben.
So vieles war in ihrem Leben schief gelaufen und das hatte sie bitter
gemacht. Ihr Ehemann hatte sich kurz nach Georgs Geburt abgesetzt,
wenig später hatte sie ihre Anstellung in einem Hertie-Warenhaus
verloren, wo sie als Verkäuferin in der Damenbekleidung gearbeitet
hatte. Das war 1993 gewesen. Danach blieben ihr nur noch Jobs an den
Kassen diverser Supermärkte. Penny, Aldi, Bilka, Bolle – davon war
sie so sehr ausgelaugt worden, dass sie vor vier Jahren vorzeitig in
den Ruhestand gegangen war. Und seither beschäftigte sie sich mit
Themen wie Die hohle Erde oder Versunkene Zivilisationen
auf dem Mars.
Georg gab sich einen Ruck und fuhr sein Notebook hoch. Er musste
einfach seine Mutter kurz sprechen und schauen, ob es ihr gut ging.
Er öffnete Skype und pingte sie an.
Keine drei Sekunden später logte sich seine Mutter ein und ihr
asthmatisches Husten war zu hören, aber noch kein Bild zu sehen.
„Mama, du musst die Kamera einschalten!“
„Moment ...“
Ihr keuchender Atem näherte sich dem Mikrofon und Georg konnte sie
auf der Tastatur herumfuhrwerken hören. Das war doch hoffentlich nur
das Asthma?
Plötzlich erschien ihr Gesicht auf dem Bildschirm. Nase und Mund
waren merkwürdig verzerrt, weil sie zu nah an der Webcam stand, und
ihre Augen blinzelten müde hinter den dicken Brillengläsern.
„Mama, geht‘s dir gut? Du bist doch hoffentlich nicht krank?“
Sie lächelte schwach und ließ sich in ihren Sessel plumpsen, den
sie neben den Schreibtisch gerückt hatte.
„Nein-nein, nur Heuschnupfen. Die Pollen sind dieses Jahr besonders
früh dran. Wegen des milden Winters. Weißt du, Georg, wenn dieses
Virus uns nicht umbringt, dann der Klimawandel.“
„Seit wann glaubst du denn an den Klimawandel“, fragte Georg
entgeistert.
„Man wird ja wohl noch seine Meinung ändern dürfen, oder?“
Sie wirkte aufrichtig empört und nahm die Brille ab, wischte sich
fahrig über Stirn und Augen.
„Du siehst müde aus, Mama.“
„Ach, das täuscht. Ich bin einfach noch nicht geschminkt. Hat der
Apfelkuchen geschmeckt?“
Georg nickte in die Kamera.
„Ja, sehr gut. Ein bisschen weniger Zimt beim nächsten Mal ...“
„Ist notiert, mein Junge. Und was hältst du von der ganzen Sache.“
„Keine Ahnung, Mama. Kommt mir alles unwirklich vor. Und du? Hast
du Angst?“
Sie schüttelte langsam aber entschieden den Kopf.
„Weißt du, es ist merkwürdig. Früher hatte ich ja immer Angst,
vor jedem Pieps. Drama, Drama, Drama! Aber jetzt, wo alles den Bach
runtergeht, da bin ich ganz gelassen. Ich bin die Ruhe selbst!“
Georg kam ein beunruhigender Verdacht. Sie hatte doch nicht etwa
wieder mit Tranquilizer angefangen?
„Bei dir ist also alles in Ordnung? Du musst keine Medikamente
nehmen?“
„Georg!“
Jetzt war sie wirklich empört.
„Das liegt doch schon Jahre zurück. Ach, was sag ich, Jahrzehnte!
Das Zeug werd ich nie wieder anrühren! Mach dir mal keine Sorgen.“
Vorwurfsvolles Schweigen von ihrer Seite. Georg konnte im Hintergrund
eine Tür aufgehen hören.
„Ist da etwa jemand bei dir?“
Sie schaute ihn unschuldig an.
„Ja, Gesche. Sie ist auf Besuch.“
Wieder war es an Georg, entgeistert zu sein.
„Tante Gesche ist bei dir?“
„Ja, warum denn nicht. Immerhin ist sie meine Schwester. Meine
einzige Schwester!“
„Aber du kannst sie nicht ausstehen!“
.
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