TOTENSOMMER [4]
+++ Live-Kolportage-Roman aus dem Jahr 2020 +++
3. Kapitel
Am
nächsten Morgen fühlte Georg sich zugleich eingeschlossen und
ausgeschlossen. Eingeschlossen in seinem abgezirkelten Leben,
ausgeschlossen von der Welt dort draußen vor dem Fenster.
Er
sprang aus dem Bett, obwohl noch Fetzen von Alpträumen in den
tiefsten Schichten seines Bewusstseins umher irrten, Männer in
Schutzanzügen mit rot unterlaufenen Augen, Kinder mit vertrockneten
Händen und ergrautem Haar, dass wie Spinnweben um ihre kleinen,
ausgemergelten Gesichter wehte. Enge Gassen mit braunen Ratten in
den dunklen Winkeln,
Gewitterlicht, dass sich weiter
oben auf nach außen
geöffneten Fensterflügeln spiegelte. Der dröhnende Ton einer
Glocke. Pest.
Schnell
trank er einen kalten Schluck Tee von gestern und streifte sich seine
Kleider über. Als er das Fenster zum Lüften öffnete, merkte er,
wie kalt es draußen noch war. Kalt und sonnig. Ein klares,
schneidendes Licht. Die Luft roch frisch, gar nicht nach Großstadt,
nach Benzin, Gummiabrieb und Abgasen.
Fast
wie auf dem Lande. Der städtische Betrieb, das ewige Machen
und Tun war offenbar schon zurückgefahren worden – der
Transmissionsriemen der Maschine Berlin stockte.
Georg
zog seine warme Jacke an und flüchtete auf die Straße. Dann weiter
zu den Kleingärten am Rande des Viertels – vielleicht konnte er
dort etwas Ruhe finden. Aber es war mehr los, als sonst an einem
Werktag. Jogger rannten an ihm vorbei, fast alle mit gebührendem
Abstand. Kinder fuhren auf Rollern die Kieswege entlang und husteten.
Rentner mit Mundschutz wichen ängstlich vor ihm zurück. Nur eine
Nebelkrähe kam ihm nahe und schaute ihn neugierig an, bevor sie
wieder auf eine Hecke hüpfte.
Georg
zog sein Handy aus der Tasche und checkte die Nachrichten: Die
Bundeskanzlerin hatte gestern Abend ein Kontaktverbot angeordnet,
jeder Bürger und jede Bürgerin war dazu verpflichtet, mindestens
1,5 Meter Abstand zu den anderen Bürgern
und Bürgerinnen zu halten.
Jetzt
fühlte sich Georg noch stärker ausgeschlossen
und eingeschlossen. Er stand
unter einem weiten Himmel der blau wie auf einer Postkarte war.
Überirdisches Ultramarin, fehlten nur noch die Segel von Booten am
Horizont. Die Luft strömte in seine Lungen, aber trotzdem umfing ihn
eine Beklemmung. Hier konnte er nicht bleiben.
Als
er wieder zu Hause war, musste er erst einmal ausruhen, sich befreien
von dieser merkwürdigen Klaustrophobie. Vielleicht sollte er
anfangen zu meditieren. Er hatte gestern bei Facebook gesehen, dass
Dutzende von Online-Kursen angeboten wurden. Sogar gratis – sein
Seelenheil würde ihn keinen Cent kosten. Aber wie sollte er
meditieren, wenn er lieber wegrennen wollte?
Onkel
Karls Haus! Es gab keine andere Möglichkeit. Aber würde er dort
nicht wahnsinnig werden vor Einsamkeit? Andererseits, hier war er
auch allein.
Er
könnte Jonas anrufen. Jonas, sein bester Freund, bei dem er sich den
ganzen Winter nicht gemeldet hatte, weil der Winter eben der Winter
war – keine gute Zeit für soziale Kontakte. Es war zu dunkel und
bedrückend im Winter, zu kalt und gedämmt. Jetzt bereute er, sich
nicht bei Jonas gemeldet zu haben … und bei vielen anderen.
Er
wählte die Nummer und hörte dem Freizeichen zu. Keine Reaktion.
Verärgert legte er das Handy beiseite und fuhr das Notebook hoch,
rief ein Nachrichtenportal auf. Schon
25.000 Infizierte. Schrecklich.
Georg
zuckte zusammen, als sein Handy klingelte. Jonas! Er ging ran.
„Du
hattest mich angerufen?“
Georg
nickte, bis er sich klar darüber wurde, dass Jonas ihn natürlich
nicht sehen konnte. War ja kein Skype-Call.
„Ja,
hab ich. Entschuldige, dass ich mich nicht gemeldet habe. Kennst mich
ja … Winter und so ...“
Er
konnte Jonas unterdrückt lachen hören.
„Mach
dir mal keine Sorgen, wir sind im Winter doch alle Trauerklöße.
Also, weshalb rufst du mich an?“
„Hab
ich dir schon mal von meinem Ferienhaus erzählt?“
„Du
hast ein Ferienhaus?“
„Na
ja, es gehört eigentlich meinem Onkel, aber der lebt in Spanien und
hat mir den Schlüssel da gelassen.“
„Spanien
ist nicht gut.“ Jonas Stimme klang jetzt gepresst. „Ich habe
Bekannte in Valencia. Spanien ist wirklich nicht gut, bald sieht es
dort aus wie in Italien. Das sag ich dir.“
Georg
räusperte sich zustimmend.
„Und
hier vermutlich auch. Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich
muss unbedingt raus aus der Stadt, sonst ersticke ich noch.“
„Kann
ich verstehen, geht mir nicht anders“
Georg
zögerte kurz. War das die richtige Idee? Aber warum denn nicht?
„Hast
du Lust, mit mir eine Weile aufs Land zu ziehen? Paar Wochen in dem
Haus in Brandenburg. Bis der ganze Spuk vorbei ist ...“
Jonas
antwortete, ohne zu zögern.
„Klar!
Danke, dass du an mich gedacht hast. Das wird toll. Wir beide, wie in
alten Zeiten. Wir werden die Welt aus den Angeln heben … oder
zumindest die Angeln ein bisschen ölen.“
„Fantastisch“,
sagte Georg. „Am liebsten würde ich schon heute hinfahren.“
„Dann
mach das doch. Ich kann aber erst übermorgen los, muss vorher noch
ein paar Sachen erledigen. Schick mir einfach die Adresse per SMS.
Und stell schon mal die Heizung an. In den nächsten Tagen soll es
recht kalt bleiben.“
Georg
musste an die antiken Kachelöfen denken.
„Mach
ich, Jonas. Wir sehen uns dann in zwei Tagen.“
.
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