TOTENSOMMER [5]
+++ Live-Kolportage-Roman aus dem Jahr 2020 +++
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Also gut, dachte Georg, sehen wir das alles als ein Abenteuer. Ich
war zwar noch nie der totale Abenteurer, aber das kann ich ja noch
lernen. Was gibt es zu tun, was zu planen?
Georg
fühlte sich ein bisschen hilflos und auch matt, als würde er im
Begriff sein, krank zu werden. Wann sollte er fahren, was sollte er
mitnehmen? Um heute noch loszufahren, war es jedenfalls zu spät,
schon weit nach Mittag. Und er hatte kein Auto, würde also mit Bus
und Bahn reisen müssen. Ob die S-Bahn noch fuhr? Die Regionalbahn 26
von Straußberg aus?
Er
holte seinen großen Rucksack, der seit Jahren auf dem Schrank
verstaubte, und packte sein Notebook rein, seinen Kindle und seine
Nintendo-DS. Dann noch ein paar Kleider und natürlich die zwei
Rollen von dem teuren Klopapier. Wer konnte schon wissen, wann man
wieder etwas auftreiben würde.
Er
löschte das Licht am Schreibtisch, zog alle Stecker in der Wohnung,
überprüfte den Gasherd, verließ die Wohnung und schloss zweimal
um. Überprüfte dann auch noch, ob die Tür wirklich abgeschlossen
war, spuckte dreimal symbolisch auf den Treppenabsatz und machte sich
auf den Weg.
Kurz
vorm S-Bahnhof fiel ihm ein, dass er noch Geld brauchte, also stapfte
er grimmig zurück zur Commerzbank an der Ecke und ließ sich an der
Maschine einen Kontoauszug ausdrucken: 58 Euro im Haben. Scheiße.
Brennen
sollte das Jobcenter! Und alle Verantwortlichen an dieser Misere, an
dieser Knechtschaft, die sich ALG II nannte, die sollten an Covid-19
verrecken. Und zwar langsam.
Nachdem
Georg in seiner Jugend von jeder Schule runter geflogen war, hatte er
sich, auf den sanften aber bestimmten Rat seiner Mutter hin, in eine
Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann gefügt. Immerhin nicht bei
Hertie, sondern bei Karstadt. Seine Spezialisierung waren Bücher und
Medien und so war er in der kleinen Buchabteilung des Karstadts am
Hermannplatz gelandet. Sein Lebensweg schien vorgezeichnet aber auch
nicht der schlechteste zu sein. Dann war das Sortiment der
Buchabteilung zusammen gestrichen worden, bis er, ein Azubi und der
Abteilungsleiter nur noch Arzt-Romane, Historien-Schinken und
Rätsel-Hefte verkauften. Die Umsätze brachen mehr und mehr ein.
Amazon stieg zum globalen Player auf, es sah böse aus. Dann kam eine
Angstblüte und Soduku-Hefte und Mandala-Malbücher retteten ein
letztes Mal die Jahresbilanz. Was folgte, war abzusehen und
unvermeidbar: die Abteilung wurde weg rationalisiert, der
Abteilungsleiter wechselte zu den CDs und DVDs und Georg wurde
betriebsbedingt entlassen. Ein Jahr Arbeitslosengeld I, anschließend
das Elend. Immerhin durfte er in seiner kleinen Wohnung bleiben, die
Miete war angemessen, wie ihm die Sachbearbeiterin zugestanden hatte.
Er
steckte die 50 Euro ein, mehr hatte der Automat nicht hergeben
wollen, und ging zum S-Bahnhof. Ein Mercedes AMG rollte langsam an
ihm vorbei und aus dem runter gekurbelten Fenster tönte Dance Monkey
in voller Lautstärke. You, you make me, make me, make me wanna
cry …
Er
ging die Treppe zum Bahnsteig hoch und schaute sich um. Niemand da.
Auch als die S-Bahn einfuhr und er sich in einen Waggon setzte: kein
Mensch zu sehen. Die Sonne schien durch die Fenster, in die Graffiti
gekratz waren, die Tags leuchteten auf den wild gemusterten
Sitzbezügen und die Stimme eines Zombies schnarrte Zurückbleiben!
Georg
ließ sich gegen die Trennwand sinken und schloss die Augen. Schatten
und Licht morsten einen schnellen Takt durch seine Lider hindurch und
die quäkende Stimme von Dance Monkey wollte ihm nicht mehr aus dem
Sinn gehen … You, you make me, make me, make me wanna cry …
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