Sonntag, 22. März 2020




TOTENSOMMER [1]

+++ Live-Kolportage-Roman aus dem Jahr 2020 +++


1. Kapitel

An einem warmen Oktobertag machte sich Georg auf den Weg in das Impf-Center in Berlin, obwohl er davon überzeugt war, die Krankheit bereits durchgemacht zu haben.
Die Sonne schien auf den wüsten Landstrich in Brandenburg, ließ die glasierten Dachziegel der Häuser in dem Dorf Grautow glitzern. Die einzige Straße – noch immer benannt nach Ernst Thälmann – lag ausgestorben vor ihm, nur auf dem dunklen Wasserspiegel des Dorfweihers zogen zwei Enten stoisch ihre Kreise.
Die Stille war groß und schwer, eine unsichtbare Last, die sich auf seine Schultern legte, in seine Lunge eindrang, die noch immer nicht richtig arbeiten wollte, so kam es ihm vor.
Georg fragte sich, wie viele Leichen sich hinter den verrammelten Türen der Häuser verbargen. Er hatte seit Wochen keinen Menschen mehr gesehen, nur seine Mutter hatte mit ihm Kontakt gehalten, obwohl sie seit Ende August in einem Notlazarett untergebracht war.
76 Einwohner lebten in Grautow, hatten in Grautow gelebt. Ob sie sich nur eingeschlossen hatten, mit ihren letzten, dürftigen Einkäufen aus dem Edeka am Dorfrand, oder ob sie längst gestorben waren, erstickt an der neuen Seuche, das war fraglich. Fast alles alte Menschen, Risikogruppe, nur noch Tote auf Urlaub.
Er blickte die Ernst-Thälmann-Straße entlang, hin zu der einzigen Bushaltestelle. Aus seinem Haus heraus hatte er die Station nicht sehen können und eigentlich war er sich sicher, dass kein Bus mehr fahren würde, trotzdem ging er langsam über das ausgetretene Pflaster in diese Richtung, die halb abgesackten Gehwegplatten entlang, die von Disteln und anderem Kraut durchbrochen waren.
Es war nicht ungewöhnlich, dass in einem so kleinen Kaff die Hauptstraße an einem Sonntagmorgen leer wie nach der Apokalypse war, aber das Wissen um die letzten Monate ließen die Szene gespenstisch erscheinen.
Georgs Hände verkrampften sich. Kein Laut war zu hören, kein Vogel, kein Insekt, selbst die zwei Enten im Weiher zogen ihre Kreise schweigend. Es roch nach vertrockneten Gräsern und den überschwemmten Auen, die die Ausläufer des Dorfs mit der Oder verbanden.
Leere Straßen, damit hatte es angefangen.

Am 20. März war ihm zum ersten Mal bewusst geworden, dass sich das Leben verändert hatte, das sich die Menschen gewandelt hatten. Frühlingsanfang in Berlin und alles Leben schien wie ausgelöscht.
Am Morgen war er noch guter Dinge gewesen, hatte sich gewaschen und rasiert, hatte eine Schüssel Haferflocken gefrühstückt, war auf seinen winzigen Balkon getreten, um eine Zigarette zu rauchen – und da war es ihm wie mit dem Hammer ins Bewusstsein getrieben worden: Sein altes Leben war vorüber, aller Leute altes Leben war vorüber. Die leere Straße unter ihm wirkte wie ein Fanal.
Nicht dass er etwas dagegen gehabt hätte, sein altes Leben abzustreifen, dass in erster Linie aus Langeweile, Videospielen und ausgedehnten Aufenthalten in der Bezirksbücherei bestand, aber stattdessen gleich sterben?
Andererseits war er ja noch jung, gerade 28 Jahre alt geworden, gesundheitlich gut in Schuss, wenn man vom Rauchen absah, aber was war zum Beispiel mit seiner Mutter? Sie war 67 Jahre alt und hatte Asthma. Und sie neigte zu unbegründeten Ängsten. Wie würde es ihr gehen, wenn die Ängste ganz und gar nicht mehr unbegründet waren?
Am Montag hatte er das letzte Mal Nachrichten im Netz gelesen und anschließend beim Abendessen Radio gehört. Das Gemeldete hatte ihn so nervös gemacht, dass er es vorzog, die nächsten Tage nur noch online zu zocken: eine Reise nach Tamriel – ein Kontinent, den man in dem Game The Elder Scrolls Online besuchen konnte – ersetzte jeden Sommerurlaub, der im realen Leben wahrscheinlich bald ausfallen würde, für ihn sowieso, denn als ALG-II-Empfänger fehlte ihm das Geld für solche Extravaganzen.
Bis gestern Abend hatte er die meiste Zeit damit verbracht, Orks zu schnetzeln, Dungeons zu erforschen und seinen Barbaren hoch zu leveln. Aber selbst der schönste Urlaub wurde irgendwann fad.
Schnell warf er sich eine Jacke über und ging auf die Straße. Er musste sowieso noch etwas einkaufen, sein Kühlschrank war leer, die Haferflocken und der Rest Milch waren die letzten Lebensmittel gewesen. Außerdem ging das Klopapier zur Neige.

Es waren noch Menschen auf den Straßen unterwegs, wenn auch nicht sehr viele. Sie liefen allein oder allenfalls zu zweit durch den Kiez, wirkten orientierungslos, sprachen, wenn überhaupt, leise, als würden sie belauscht, als würden sie verdächtigt, etwas gesetzloses zu tun.
Gab es etwa schon eine Ausgangssperre? Georg musste nachher unbedingt wieder Nachrichten hören.
Diese Stille in den Straßen war unheimlich. Dabei liebte er Stille eigentlich, hatte auch nicht viele Freunde, lebte lieber sein verborgenes Leben. Aber dieses tiefe Schweigen, dass sich in den Straßen der Großstadt breit machte, die verhuschten Blicke der Leute, die herausfinden wollten, ob der andere Passant krank aussah, ob er vielleicht sogar ein Husten unterdrückte, das löste eine Beklemmung in ihm aus.
Wie zum Trotz nickte er einem Fremden freundlich zu, der gerade aus dem Lidl-Markt an der Ecke kam, ein älterer Herr, der einen Hackenporsche hinter sich her zog, der so überladen war, dass sich der feste Stoff ausbeulte. Oben drauf waren zwei Packungen Klopapier mit einem Fahrrad-Expander geschnallt. Gab es dafür heute Rabatt?
Der ältere Herr verzog die Lippen zu einem Strich und wandte den Kopf ab.
Dann eben nicht, dachte Georg, Berlin war ja noch nie die Hauptstadt der Höflichkeit.
Er steuerte den Lidl an und schnappte sich den vorletzten Einkaufswagen. Durch das Schaufenster konnte er erkennen, dass die Kunden in einem merkwürdig großen Abstand zueinander an der Kasse standen. Und der Papierwaren-Laden neben dem Supermarkt war geschlossen. Georg schaute sich um, auch Blumenverkäufer hatte zu, an seine Ladentür war ein ausgedruckter Zettel geklebt, auf dem etwas von Corona und Verordnung stand. Also doch Ausgangssperre? Wenn man es genau betrachtete, waren eigentlich alle Geschäfte geschlossen, außer dem Lidl. Und nach wie vor kaum Menschen in den Straßen. Nur eine feiste Nebelkrähe hüpfte vor einem verrammelten Imbiss auf und ab und fraß Pommes Frites, die platt getreten auf dem Bordstein klebten.
Georg betrat den Lidl und wurde fast umgerannt, als er an den Paletten mit Klopapier und Küchenrollen vorbei ging. Drei Frauen, eine davon mit Kleinkind im Einkaufswagen, stritten sich um die letzten Packungen der Hausmarke. Georg schlängelte sich an ihnen vorbei und griff sich eine Zweier-Packung des teuersten Herstellers, von denen es noch genug gab. Das würde ein empfindliches Loch in seine Haushaltskasse brennen, aber ohne Klopapier in den Weltuntergang, das war keine Option. Und offenbar handelte es sich ja gerade um den Weltuntergang, wenn man sah, wie sich die Leute benahmen.
Die gleiche Szene an den Regalen mit Nudeln, Reis und Mehl, ebenso an den Tiefkühltruhen. Nur noch Pizza Hawaii war übrig. Georg nahm sich drei Stück und auch eine Packung mit tiefgefrorenen Bohnen. Schnell noch vier Mal Knäckebrot und zwei Mal Scheibletten-Käse, mehr war nicht zu bekommen. Dann zur Kasse, immerhin gab es dort noch Zigaretten, leider nur noch abscheuliche Marken. Aber egal, dachte er, Pall Mall wird mich schon nicht umbringen.
Georg stellte sich mit gebührendem Abstand zu dem Vordermann in die Schlange und versuchte, möglichst flach zu atmen. Es roch nach billigem After-Shave und Tod. Plötzlich drängte sich eine dicke Frau in die Lücke.
„Ähm, entschuldigen Sie“, sagte Georg.
Die Frau drehte sich halb zu ihm um und sah ihn giftig an.
„Was?“
„Äh, Sie drängeln sich gerade vor. Das ist Ihnen schon klar, oder?“
Die dicke Frau zuckte die Schultern.
„Hier ist doch noch Platz.“
Und mit diesen Worten wies sie ihm wieder den Rücken und stapelte ihre Waren aufs Band. Ein großer Stapel.






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