TOTENSOMMER [1]
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Live-Kolportage-Roman aus dem Jahr 2020 +++
1. Kapitel
An einem warmen
Oktobertag machte sich Georg auf den Weg in das Impf-Center in
Berlin, obwohl er davon überzeugt war, die Krankheit bereits
durchgemacht zu haben.
Die Sonne schien auf
den wüsten Landstrich in Brandenburg, ließ die glasierten
Dachziegel der Häuser in dem Dorf Grautow glitzern. Die einzige
Straße – noch immer benannt nach Ernst Thälmann – lag
ausgestorben vor ihm, nur auf dem dunklen Wasserspiegel des
Dorfweihers zogen zwei Enten stoisch ihre Kreise.
Die Stille war groß
und schwer, eine unsichtbare Last, die sich auf seine Schultern
legte, in seine Lunge eindrang, die noch immer nicht richtig arbeiten
wollte, so kam es ihm vor.
Georg fragte sich,
wie viele Leichen sich hinter den verrammelten Türen der Häuser
verbargen. Er hatte seit Wochen keinen Menschen mehr gesehen, nur
seine Mutter hatte mit ihm Kontakt gehalten, obwohl sie seit Ende
August in einem Notlazarett untergebracht war.
76 Einwohner lebten
in Grautow, hatten in Grautow gelebt. Ob sie sich nur eingeschlossen
hatten, mit ihren letzten, dürftigen Einkäufen aus dem Edeka am
Dorfrand, oder ob sie längst gestorben waren, erstickt an der neuen
Seuche, das war fraglich. Fast alles alte Menschen, Risikogruppe, nur
noch Tote auf Urlaub.
Er blickte die
Ernst-Thälmann-Straße entlang, hin zu der einzigen Bushaltestelle.
Aus seinem Haus heraus hatte er die Station nicht sehen können und
eigentlich war er sich sicher, dass kein Bus mehr fahren würde,
trotzdem ging er langsam über das ausgetretene Pflaster in diese
Richtung, die halb abgesackten Gehwegplatten entlang, die von Disteln
und anderem Kraut durchbrochen waren.
Es war nicht
ungewöhnlich, dass in einem so kleinen Kaff die Hauptstraße an
einem Sonntagmorgen leer wie nach der Apokalypse war, aber das Wissen
um die letzten Monate ließen die Szene gespenstisch erscheinen.
Georgs Hände
verkrampften sich. Kein Laut war zu hören, kein Vogel, kein Insekt,
selbst die zwei Enten im Weiher zogen ihre Kreise schweigend. Es roch
nach vertrockneten Gräsern und den überschwemmten Auen, die die
Ausläufer des Dorfs mit der Oder verbanden.
Leere Straßen,
damit hatte es angefangen.
Am 20. März war ihm
zum ersten Mal bewusst geworden, dass sich das Leben verändert
hatte, das sich die Menschen gewandelt hatten. Frühlingsanfang in Berlin und alles Leben schien wie ausgelöscht.
Am Morgen war er
noch guter Dinge gewesen, hatte sich gewaschen und rasiert, hatte
eine Schüssel Haferflocken gefrühstückt, war auf seinen winzigen
Balkon getreten, um eine Zigarette zu rauchen – und da war es ihm
wie mit dem Hammer ins Bewusstsein getrieben worden: Sein altes Leben
war vorüber, aller Leute altes Leben war vorüber. Die leere Straße
unter ihm wirkte wie ein Fanal.
Nicht dass er etwas
dagegen gehabt hätte, sein altes Leben abzustreifen, dass in erster
Linie aus Langeweile, Videospielen und ausgedehnten Aufenthalten in
der Bezirksbücherei bestand, aber stattdessen gleich sterben?
Andererseits war er
ja noch jung, gerade 28 Jahre alt geworden, gesundheitlich gut in
Schuss, wenn man vom Rauchen absah, aber was war zum Beispiel mit
seiner Mutter? Sie war 67 Jahre alt und hatte Asthma. Und sie neigte
zu unbegründeten Ängsten. Wie würde es ihr gehen, wenn die Ängste
ganz und gar nicht mehr unbegründet waren?
Am Montag hatte er
das letzte Mal Nachrichten im Netz gelesen und anschließend beim
Abendessen Radio gehört. Das Gemeldete hatte ihn so nervös gemacht,
dass er es vorzog, die nächsten Tage nur noch online zu zocken: eine
Reise nach Tamriel – ein Kontinent, den man in dem Game The
Elder Scrolls Online besuchen konnte – ersetzte jeden
Sommerurlaub, der im realen Leben wahrscheinlich bald ausfallen
würde, für ihn sowieso, denn als ALG-II-Empfänger fehlte ihm das
Geld für solche Extravaganzen.
Bis gestern Abend
hatte er die meiste Zeit damit verbracht, Orks zu schnetzeln,
Dungeons zu erforschen und seinen Barbaren hoch zu leveln. Aber
selbst der schönste Urlaub wurde irgendwann fad.
Schnell warf er sich
eine Jacke über und ging auf die Straße. Er musste sowieso noch
etwas einkaufen, sein Kühlschrank war leer, die Haferflocken und der
Rest Milch waren die letzten Lebensmittel gewesen. Außerdem ging das
Klopapier zur Neige.
Es waren noch
Menschen auf den Straßen unterwegs, wenn auch nicht sehr viele. Sie
liefen allein oder allenfalls zu zweit durch den Kiez, wirkten
orientierungslos, sprachen, wenn überhaupt, leise, als würden sie
belauscht, als würden sie verdächtigt, etwas gesetzloses zu tun.
Gab es etwa schon
eine Ausgangssperre? Georg musste nachher unbedingt wieder
Nachrichten hören.
Diese Stille in den
Straßen war unheimlich. Dabei liebte er Stille eigentlich, hatte
auch nicht viele Freunde, lebte lieber sein verborgenes Leben. Aber
dieses tiefe Schweigen, dass sich in den Straßen der Großstadt
breit machte, die verhuschten Blicke der Leute, die herausfinden
wollten, ob der andere Passant krank aussah, ob er vielleicht sogar
ein Husten unterdrückte, das löste eine Beklemmung in ihm aus.
Wie zum Trotz nickte
er einem Fremden freundlich zu, der gerade aus dem Lidl-Markt an der
Ecke kam, ein älterer Herr, der einen Hackenporsche hinter sich her
zog, der so überladen war, dass sich der feste Stoff ausbeulte. Oben
drauf waren zwei Packungen Klopapier mit einem Fahrrad-Expander
geschnallt. Gab es dafür heute Rabatt?
Der ältere Herr
verzog die Lippen zu einem Strich und wandte den Kopf ab.
Dann eben nicht,
dachte Georg, Berlin war ja noch nie die Hauptstadt der Höflichkeit.
Er steuerte den Lidl
an und schnappte sich den vorletzten Einkaufswagen. Durch das
Schaufenster konnte er erkennen, dass die Kunden in einem merkwürdig
großen Abstand zueinander an der Kasse standen. Und der
Papierwaren-Laden neben dem Supermarkt war geschlossen. Georg schaute
sich um, auch Blumenverkäufer hatte zu, an seine Ladentür war ein
ausgedruckter Zettel geklebt, auf dem etwas von Corona und
Verordnung stand. Also doch Ausgangssperre? Wenn man es genau
betrachtete, waren eigentlich alle Geschäfte geschlossen, außer dem
Lidl. Und nach wie vor kaum Menschen in den Straßen. Nur eine feiste
Nebelkrähe hüpfte vor einem verrammelten Imbiss auf und ab und fraß
Pommes Frites, die platt getreten auf dem Bordstein klebten.
Georg betrat den
Lidl und wurde fast umgerannt, als er an den Paletten mit Klopapier
und Küchenrollen vorbei ging. Drei Frauen, eine davon mit Kleinkind
im Einkaufswagen, stritten sich um die letzten Packungen der
Hausmarke. Georg schlängelte sich an ihnen vorbei und griff sich
eine Zweier-Packung des teuersten Herstellers, von denen es noch
genug gab. Das würde ein empfindliches Loch in seine Haushaltskasse
brennen, aber ohne Klopapier in den Weltuntergang, das war keine
Option. Und offenbar handelte es sich ja gerade um den Weltuntergang,
wenn man sah, wie sich die Leute benahmen.
Die gleiche Szene an
den Regalen mit Nudeln, Reis und Mehl, ebenso an den Tiefkühltruhen.
Nur noch Pizza Hawaii war übrig. Georg nahm sich drei Stück und
auch eine Packung mit tiefgefrorenen Bohnen. Schnell noch vier Mal
Knäckebrot und zwei Mal Scheibletten-Käse, mehr war nicht zu
bekommen. Dann zur Kasse, immerhin gab es dort noch Zigaretten,
leider nur noch abscheuliche Marken. Aber egal, dachte er, Pall
Mall wird mich schon nicht umbringen.
Georg stellte sich
mit gebührendem Abstand zu dem Vordermann in die Schlange und
versuchte, möglichst flach zu atmen. Es roch nach billigem
After-Shave und Tod. Plötzlich drängte sich eine dicke Frau in die
Lücke.
„Ähm,
entschuldigen Sie“, sagte Georg.
Die Frau drehte sich
halb zu ihm um und sah ihn giftig an.
„Was?“
„Äh, Sie drängeln
sich gerade vor. Das ist Ihnen schon klar, oder?“
Die dicke Frau
zuckte die Schultern.
„Hier ist doch
noch Platz.“
Und mit diesen
Worten wies sie ihm wieder den Rücken und stapelte ihre Waren aufs
Band. Ein großer Stapel.
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