TOTENSOMMER [6]
+++ Live-Kolportage-Roman aus dem Jahr 2020 +++
4. Kapitel
Am
Bahnhof Straußberg fuhr sogar noch die Regionalbahn, war aber
genauso leer wie die S-Bahn zuvor. Nur ein alter Mann saß in dem
Waggon, in den Georg einstieg. Der Alte wischte hektisch auf seinem
Smartphone herum, als Georg an ihm vorbeiging. Er hatte gerade eine
Seite mit nackten Frauen angeschaut. Eher harmlose Sachen, trotzdem
war Georg peinlich berührt. Deswegen nahm er die Treppe und setzte
sich ins Oberdeck des doppelgeschossigen Abteils.
Auf
den Feldwegen am Rand der Bahntrasse waren keine Menschen zu sehen,
doch das war vermutlich normal. In Brandenburg war immer
Ausnahmezustand. Aber auch Autos waren kaum unterwegs. Die Welt würde
wieder so werden wie früher, wie vor seiner Geburt. Wenig
Kraftfahrzeuge, viele Spaziergänger, lärmende Kinder in den Höfen,
kaum Hochbetagte, Millionen von Grabsteinen auf den Friedhöfen. Und
Suppenküchen, Myriaden von Suppenküchen, die nötig wären, nachdem
die Weltwirtschaft zusammengebrochen sein würde.
Georg
schaltete sein Smartphone an und scrollte durch die Nachrichten. Noch
war in Deutschland nicht viel passiert. Aber die Warnungen prasselten
über alle Kanäle auf die Leser und Zuschauer. Risikogruppe – auch
du kannst dazu gehören. Sieh dich vor, der Tod kommt schleichend.
Und der soziale Tod auch, dachte Georg. Denn was sollte ihm dieses
weltliche Virus schon anhaben? Er war jung, er war unbesiegbar, auf
seiner Visitenkarte stand Connor MacLeod.
Doch
seine Mutter war in Gefahr, das war nicht zu leugnen. Und Tante
Gesche auch. Sollte er die beiden anrufen und sie bitten, auch nach
Grautow zu kommen? Vielleicht würden sie sich mit Jonas gut
verstehen und er hätte seine Ruhe. Schön wär‘s, dachte Georg,
kann ich mir abschminken. Er liebte seine Mutter – und auch Tante
Gesche auf eine spezielle, spröde Art – daran war kein Zweifel,
aber er konnte sie kaum länger als ein, zwei Tage um sich haben,
ohne in Kindheitsmuster und Aggression zu verfallen. Besuch und Fisch
… drei Tage frisch. Wenn man es genau nahm, wurden am zweiten Tag
die Augen schon glasig.
Er
öffnete Skype und pingte seine Mutter an. Wenigstens ein kurzes
Gespräch konnte nicht schaden.
Nach
dem zweiten Ton wurde ihre Kamera eingeschaltet, aber nicht sie
hockte vor dem Bildschirm, sondern Tante Gesche.
„Hallo,
Georg! Du rufst schon wieder an?“
Sie
hatte eine Zigarette zwischen den Lippen und strich sich fahrig das
schwarz gefärbte Haar zurück. Georg meinte zu hören, wie es
knisterte, weil es so trocken war.
„Äh,
Tante Gesche, was machst du denn da? Das ist Mamas Account.“
Seine
Tante winkte ab.
„Wird
sie schon nicht stören. Außerdem kann sie gerade nicht. Sie sitzt
auf dem Thron.“
Georg
runzelte die Stirn.
„Versteh
ich nicht. Auf welchem Thron denn?“
Gesche
lachte laut auf.
„Na,
auf dem Klo, dem Abort … im stillen Kämmerlein. Und du weißt ja,
wie lange sie immer braucht. Sie sollte weniger Weißbrot essen. Und
die Schokolade hilft auch nicht weiter. Das macht den Stuhl hart wie
einen Tonklumpen.“
„Tante
Gesche, bitte!“ Georg verzog das Gesicht. „So plastisch musst du
es mir nicht beschreiben!“
„Ist
ja schon gut, Georg. Ich wusste gar nicht, dass du so zimperlich
bist. Aber hör mal, ich hab da ein Anliegen, zu dem ich dich
befragen wollte.“
Er
wandte sich ein wenig ab und verdrehte die Augen. Er ahnte schon, was
kommen würde.
„Du
weißt ja, dass der Herr über uns wacht, oder?“
Tief
durchatmen.
Was
für seine Mutter Die hohle Erde war, war für ihre Schwester
Unser lieber Jesus Christus. Eine Glaubensfrage.
„Hast
du dir schon mal darüber Gedanken gemacht, dass wir justamente den
Beginn der Endzeit erleben?“
„Das
glaube ich kaum, Tante Gesche.“
Sie
lächelte schmal und nahm noch einen tiefen Zug von ihrer Kim.
„Da
könntest du recht haben, denn wir leben vermutlich nicht erst am
Beginn der Endzeit, sondern mittendrin. Das Wirken Satans
zeigt sich an allen Ecken. Ich spreche nicht nur von dieser aktuellen
Heimsuchung, dieser schrecklichen Seuche, sondern auch von der
Heuschreckenplage, die neuerlich Afrika überzieht. Dann die vielen
Brände und Erdbeben, die Überflutungen. Man könnte meinen, die
vier Boten reiten durch unsere Straßen. Und wenn dieser
amerikanische Präsident nicht der leibhaftige Anti-Christ ist, dann
weiß ich es auch nicht.“
Georg
wollte sie gerade beschwichtigen, als die Verbindung schlechter
wurde. Tante Gesches letzte Worte hallten völlig verzerrt durch den
Äther, ihr Abbild flimmerte, dann brach die Verbindung zusammen.
Schlechte Netzabdeckung in der Provinz konnte auch etwas Gutes haben.
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