TOTENSOMMER [3]
+++ Live-Kolportage-Roman aus dem Jahr 2020 +++
Genau in diesem Moment schlurfte Tante Gesche ins Bild, mager bis auf
die Knochen, mit einem Gesicht das sowohl permanente Verwunderung als
auch Strenge ausstrahlte. Zwischen ihren schmalen Lippen klebte eine
Zigarette und ihr schwarz gefärbtes Haar war glatt zurück gebunden.
Tante Gesche, die Aufsteigerin der Familie. Sie hatte einen Ingenieur
geheiratet, keine Kinder bekommen und sich ein ruhiges Leben gemacht,
vor allem, nachdem ihr Mann an Lungenkrebs gestorben war. Hielt sie
nicht davon ab, weiterhin Kette zu rauchen.
„Tante Gesche! Ich glaub es nicht! Du rauchst direkt neben einer
Asthmatikerin? Gerade jetzt?“
Sie winkte müde in die Kamera.
„Das sind ganz leichte Zigaretten. Kim. Wirklich ganz milde,
das wird schon nicht schaden.“
Georgs Mutter atmete verkniffen ein.
„Na ja ...“
„Ist ja schon gut. Ich geh auf den Balkon.“
Und mit diesen Worten trat Tante Gesche aus dem Bild, als würde sie
von einer Bühne abgehen.
„Mama“, sagte Georg. „Das darfst du ihr nicht durchgehen
lassen. Wenn sie schon qualmen muss ...“
Seine Mutter wiegte langsam den Kopf hin und her.
„Weißt du, Georg, wir müssen alle irgendwann sterben. Und ich war
in letzter Zeit ziemlich allein. Du kommst mich ja nie besuchen.“
„Mama, bitte!“
Seine Mutter hob die Augenbrauen.
„Ist doch wahr! Und jetzt, in dieser schlimmen Zeit, kann ich noch
nicht mal meine Freundinnen besuchen gehen. Ich weiß, dass Gesche
ein Biest sein kann, aber sie ist meine Schwester. Ich hab sie
trotzdem lieb.“
„Das lassen sie aber besser nicht wissen, sonst nutzt sie das nur
aus.“
„Schatz, du sollst nicht immer das Schlechteste von den Menschen
denken.“
Seine Mutter strich sich geistesabwesend die Haare zurück und
schaute nach rechts aus dem Fenster. Licht fiel in ihre grauen Augen
und für einen Moment sah sie wieder aus wie ein junges Mädchen. Ein
sehr müdes junges Mädchen.
„Und was hast du jetzt vor, Schatz? Bleibst du in Berlin?“
„Wo soll ich denn sonst hingehen?“
Sie schaute ihn überrascht an.
„In das alte Ferienhaus von Onkel Karl!“
„Oh Gott, das existiert ja auch noch. Da war ich seit Jahren nicht
mehr.“
„Ich auch nicht“, sagte seine Mutter. „Aber es steht noch,
schätze ich. Du hast ja einen Schlüssel.“
Das Haus von Onkel Karl war eine Bruchbude in der tiefsten,
brandenburgischen Provinz. Er hatte es kurz nach der Wende gekauft,
um mal Auszuspannen, wie er es nannte. Über die Jahre war er
vielleicht drei oder vier Mal dort gewesen, hatte angefangen, es zu
renovieren und dann das Interesse verloren.
Vor zehn Jahren war er in Rente gegangen und nach Spanien gezogen, an
die Costa del Sol. Seitdem stand das Haus leer. Georg war einmal dort
gewesen, um nach dem Rechten zu schauen. Das Haus war mit schäbigen
DDR-Möbeln eingerichtet, die Tapete hing in fast allen Zimmern von
den Wänden und die Kachelöfen waren nur noch als Dekoration zu
gebrauchen. Im Winter würde man dort erfrieren. Außerdem war
mittlerweile sicher der Strom abgestellt worden.
„Da kann man doch nicht mal für ein Wochenende wohnen. Und ich
hoffe, dass der Kühlschrank ausgeräumt wurde, denn ohne Strom würde
da sonst eine Monster-Kolonie wachsen.“
Seine Mutter schüttelte energisch den Kopf.
„Den Strom bezahl ich regelmäßig. Wasser auch. Und Gesche war im
letzten Herbst dort. Sie meinte, es sei alles ziemlich gut im
Schuss.“
„Das bezweifle ich“, sagte Georg.
Im Hintergrund war die Balkontür zu hören und Tante Gesche stapfte
wieder durchs Bild.
„Gudrun? Kommst du? Wir wollten doch was kochen“, rief sie.
„Du hörst es, Georg, ich muss Schluss machen. Meld dich bald
wieder, ja? Und wenn dir die Decke auf den Kopf fällt, kannst du
jederzeit in Onkel Karls Haus.“
„Ich kann dich besuchen kommen“, sagte Georg lahm.
„Das ist keine gute Idee, Schatz. So wenig soziale Kontakte wie
möglich, haben sie heute im Fernsehen gesagt.“
Nachdem sich Georg einen Tee gemacht hatte, setzte er sich wieder an
den Computern und rief die Seite von Euronews auf.
Gerade wurde ein Bericht aus Italien gezeigt, aus einem Krankenhaus
in Bergamo. Dicht gedrängte Betten, steriles Licht. Alte Männer und
Frauen in Krankenhaushemden, die merkwürdige Helme auf hatten,
zylindrische Objekte aus durchsichtigem Kunststoff, die den ganzen
Kopf umschlossen, um sie mit Sauerstoff zu versorgen. Ärzte und
Pfleger liefen zwischen den Betten umher, überprüften die
Sauerstoffzufuhr, notierten Werte auf Klemmbrettern. Derweil die
Patienten um Luft rangen.
Ein Bild aus der Unterwelt. Es wirkte ein bisschen wie eine Radierung
von Gustave Doré. Die Köpfe mit den Sauerstoffhelmen trieben auf
den weißen Decken und Laken. Der Himmel im Fenster dahinter hatte
sich verdunkelt.
Georg klappte das Notebook zu und lief unruhig in seinem Zimmer auf
und ab. Wo sollte er nur hin? Wo war ein Zufluchtsort? Und wer würde
ihn retten, wenn er die Krankheit bekam, wenn er sie womöglich schon
hatte?
.
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