Freitag, 21. September 2012

Können böse Menschen sympathisch sein?
Ich habe vor einigen Tagen ein Photo in einem Spiegel-Heft entdeckt, auf dem man den Diktator Kim Jong Un zu sehen bekam. Er spazierte mit seiner hübschen Ehefrau zusammen durch ein Spaß-Bad (!) in Nordkorea, die Männer in Badehosen winkten ihm begeistert (hier ist ein LINK zu einer anderen Aufnahme aus der Serie).
Für einen kurzen Moment, den Bruchteil einer Sekunde, bevor ich mir gewahr wurde, um wen es sich handelte, dachte ich: der hat aber ein nettes Lächeln, ein sympathisches Gesicht - was wohl auch durch den Gegensatz zu anderen Pressephotos von Kim verursacht sein könnte, denn üblicherweise wird er in den westlichen Medien feist, verschlossen und als undurchschaubar dargestellt.
Nun wirkte ja sein Vater in den letzten Jahren vor dem Ableben wie eine Mischung aus Wachsfigur und Chucky die Mörderpuppe, insofern ist der Sympathie-Vorsprung nicht gerade schwer. Trotzdem die Frage: kann ein Diktator ein netter Kerl sein (um Johannes Heesters zu zitieren)? Denn ein Diktator ist Kim ja ohne Zweifel, in einem Land, in dem nichts unversucht gelassen wurde, große Literatur in Realität umzusetzen. Selbst die in den Wohnungen fest installierten Radioempfänger lassen sich nur leiser stellen, nicht ausschalten, ganz wie in Orwells 1984.
Bei anderen Diktatoren muss man nicht lange nachdenken: Mussolini zum Beispiel sah aus wie ein soziopathischer Gassen-Schläger (mit Kontakten in Zuhälterkreise hinein). Gaddafi wirkte zum Schluss wie eine überschminkte, hasserfüllte Puffmutter und Saddam Hussein wie ein jovialer Totschläger und Folterknecht. Idi Amin sah nicht nur aus wie ein sadistischer Paranoiker.
Schwieriger wird es da schon bei Typen wie Pol Pot (wahrlich einem der größten Schlächter des vergangenen Jahrhunderts) oder Franco; beide wirken auf Photographien völlig farblos.

Hingegen die Verlierer der Geschichte sehen fast immer großherzig aus. Keiner schaute so sanftmütig wie Gustav Landauer, keiner so grüblerisch wie Kurt Eisner, keiner so gewitzt wie Erich Mühsam. (Wobei ich mir bei Karl Liebknecht zum Beispiel nicht so sicher bin, was Sanftmut und Großherzigkeit anbelangt. Allerdings wäre es mit ihm allemal besser geworden, schätze ich, als mit dem unsäglichen Stumpfkopf Thälmann).
Und diese Verlierer der Geschichte wirken auch noch auf den zweiten Blick, nach dem ersten Sekundenbruchteil, sympathisch. Kaum vorstellbar, dass Landauer Diktator geworden wäre.

Was soll ich nun aber von Kim Jong Un halten? Ist in seinem Gesicht etwas abzulesen, das darauf hindeutet, dass er der erste Clanchef in Nordkorea sein wird, der Reformen einleiten könnte, zwar sicher nicht die eines Gorbatschows, aber vielleicht die eines Deng Xiao Ping? Ich weiß es nicht. Aber wer weiß...

Gustav Landauer um 1910

Lebt Heesters eigentlich noch, fragte ich mich beim Schreiben dieser Zeilen und googelte kurz. Nein, ist schon fast ein Jahr lang unter der Erde. Hatte ich gar nicht mitbekommen. War da keine Staatstrauer? Flaggen auf Halbmast? - Wie auch immer; schon interessant, was man alles verpasst, wenn man kein Fernsehgerät besitzt. Die Realität schrumpft auf das Wesentliche zusammen. Unbedeutende Operettensänger bleiben dann ausgeklammert. Bald werde ich zu dem einen Prozent gehören, dass den Namen des Bundeskanzlers nicht kennt. Bundeskanzlerin? Ach, ja.
Früher hielt ich dieses eine Prozent immer für ungebildet und abgrundtief dumm, heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es sich nicht vielmehr um die wirklich Klugen handelt.

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