Donnerstag, 6. September 2012

Ich muss euch allen von einer literarischen Entdeckung erzählen, die ich in den letzten Tagen gemacht habe, ein – zumindest in Deutschland – fast vergessener Dichter der Französischen Romantik: Gerard de Nerval.
Ich lese gerade seine Novelle „Aurelia“, und ich kann es einfach nicht begreifen, dass dieses Stück Prosa schon im Jahr 1845 geschrieben sein soll. Das Ganze liest sich so unfassbar modern, dass es selbst die Surrealisten 80 Jahre später noch überflügelt, ganz zu schweigen von Lautreamont, Rimbaud oder Baudelaire.
Es beginnt mit einem Abschnitt, den ich erst vorgestern so hätte selbst schreiben können, wenn auch Nervals Stil hier eindeutig eleganter und stringenter ist: „Der Traum ist ein zweites Leben. Ich habe nie ohne zu schaudern durch die Elfenbein- oder Horntore dringen können, die uns von der unsichtbaren Welt scheiden. Die ersten Augenblicke des Schlafes sind das Bild des Todes. Eine nebelhafte Erstarrung ergreift unsern Gedanken, und wir können den genauen Augenblick nicht feststellen, wo das Ich in einer andern Form die Tätigkeit des Daseins fortsetzt. Ein ungewisses unterirdisches Gewölbe erhellt sich allmählich und aus dem Schatten der Nacht lösen sich in ernster Unbeweglichkeit die bleichen Figuren, welche den Vorhof der Ewigkeit bewohnen...“
Ist das nicht phantastisch zeitgenössisch für unsere Ära?
Ich bin ganz gebannt von dieser Prosa, von der ich zwar in früheren Jahren am Rande gehört, gelesen hatte, die ich aber nie zur Hand nahm, bis ich, ich berichtete bereits davon, demletzt ein Kindle kaufte. Vermutlich ist das der größte Vorteil eines E-Book-Readers, man liest plötzlich Bücher, die man vorher nicht aus dem Bibliotheksregal gezogen hätte, und man entdeckt völlig unbekannte Kontinente, einstmals erschlossenes, jetzt aber wieder von der grünen Hölle der Zeitläufte überwuchtetes Gebiet.
Und hinter einem Gestrüpp aus Kletterpflanzen und Farn hockt der irre kichernde Gerard de Nerval. In seiner Biographie kann man nachlesen, dass er dem Wahnsinn verfallen war, die letzten Jahre seines Lebens, auch zu der Zeit wahnhaft durch die Straßen lief, unter freiem Himmel nächtigte, als er seine „Aurelia“ schrieb.
Mir erscheint der Text jedoch, als hätte Nerval zwei, drei Pfeifen Opium oder ein großes Fläschchen Laudanum zu viel gehabt. Der Text ist ein Traum, eine Himmelfahrt in die Hölle (oder umgekehrt), eine Phantasmagorie, die sich durch Zeit und Raum windet. Ein unheimlicher Text, völlig aus der Zeit gefallen. Und so etwas großartiges wird vermutlich nur noch von Philologen studiert. Jammerschade.
Doch den Besitzern eines E-Book-Readers ist jetzt ganz schnell Abhilfe geschaffen, denn sie können sich das Werk kostenfrei auf Gutenberg.org laden: LINK
Eine von Hedwig Kubin hervorragend übersetzte Ausgabe, üppig illustriert von ihrem berühmten Ehemann Alfred. Leute, lest das, sofort. (Oder wie wir Digital Natives sagen: Lies! Das! Jetzt!)

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Zuvor, am Nachmittag, den ich durch das wilde Südgelände streifend verbrachte, kam mir der Gedanke an unser aller Greisenzeit.
Wenn unsere Generation erst einmal im Altenpflegeheim sitzt, so um das Jahr 2050 herum, dann wird sich einiges geändert haben. Plötzlich säuselt dort aus dem Gruppenraum nicht mehr deutscher Schlager, sondern Bauhaus und The Cure (wenn wir Glück haben – eher wohl aber Madonna und Simply Red).
Und all die Extrawürste aus Tofu, das kulinarische Verlangen der Vegetarier, Veganer, Fruktarier, Zöliakie-Patienten, Laktose-Verächter. Wireless Lan in jedem Zimmer, Kampf der Apple- und Microsoft-Jünger im Frühstückssaal. Jeden Abend eine SMS an den Tod (die Enkel werden fragen: Opa, was ist denn das, eine SMS, und was hast du da für ein komisches Gerät in der Hand? Ein Was? Ein Händi?)
Aufgemotzte Rollatoren, beige Freizeitanzüge von H&M (da sei Gott vor!), und einmal die Woche Körperpflege durch die freundliche Hilfskraft aus Usbekistan. Die aber nicht den ganzen Körper enthaaren wird, sie hat noch anderes zu tun; die Körperhaare werden wieder kräftig sprießen, nach über fünfzig Jahren zähen Kampfes gegen das Gestrüpp an Beinen, Bäuchen, unter den Achseln, zwischen den Augenbrauen. Zurück zur Natur durch Tatterigkeit.

Wir können die ersten Anzeichen für das Kommende schon am Kottbusser Tor betrachten, all die alkoholisierten Punks im Frührentner-Alter. Knitterige, zockelnde Mittfünfziger, deren Irokesen müde herab hängen. Noch immer in T-Shirts, Jeans und Lederjacken, die unter ihren alten Gesichtern wie Kinderkleidung aussehen. Dann schon lieber beige Freizeitanzüge von H&M (da sei Gott vor!)

Der irre Nerval, ungefähr 45 Jahre alt

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