Montag, 24. September 2012

(100ster Eintrag)

Im Radio eine verlogene Sendereihe über den Tod mit dem verlogenen Titel "Leben mit dem Tod".
Da lässt man Schulkinder berichten über ihren gelungenen Projekttag, der das Ableben behandelt. Da wird geredet von Hamstern und Omas. Und von Tanten im Altersheim. (Von Vettern im Turm).
Die Sprache in den Medien verdeckt die Dinge in einer Totalität, die man schon fast Lügen nennen möchte. Und wenn sie die Dinge nicht verdeckt, verdreckt sie sie.
Danach eine Ratgebersendung für Musiker: Wie nutze ich Facebook und Consorten zu Werbezwecken? - Der erste Tip: nicht nur Veranstaltungen posten, sondern auch mal eine Frage stellen. Ja! Wir werden alle zu Digital Natives, gleich morgen.
Und übermorgen dann wieder der Tod.
Nicht das er mir neu wäre, das es mir neu wäre, dass ich verschwinden werde, wie all die anderen  vor mir. Trotzdem packt mich täglich die nackte Panik, wenn ich an das Sterben des Ichs denke. Und ich könnte in Thränen ausbrechen, über all die Menschen, die dahin geschieden sind, verblichen, verweht in den Jahrhunderten, Jahrtausenden, Jahrhunderttausenden zuvor. Jeder einzelne, mit einem Universum aus Synapsen im Kopf. Alles Staub. Alles dahin. Keine Spur übrig. Vielleicht noch ein unleserlicher Taufeintrag im Kirchenregister, ein Grabstein vielleicht - doch meist sind die ja nach ein- zweihundert Jahren abgeräumt, die Daten mit dem Meißel ausgelöscht. Alles ist eitel.
Nur die, die sich einen Namen machten, sind als freundliche Geister noch unter uns. Catullus, Walther, Gryphius, Hölderlin.
Denn deshalb schreiben wir doch: um zu überleben. Damit unsere Namen nicht vergessen seien, wenn schon der Körper, wenn sogar (möglicherweise) das Ich wird sterben müssen.
Und wir sitzen im Turmzimmer und kritzeln die Blätter voll, schreiben Merkwürdigkeiten über Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Setzen unseren Namen darunter (der seltsam italienisch klingt), datieren: den 9ten März 1940.

Sein Zimmer, mit Blick in den Winter


Wieder und immer wieder lese ich Hölderlins späte Gedichte, die vermutlich nur so zu bannen vermögen, weil sie ein vermeintlich Irrsinniger geschrieben hat. Tübingen, im Turm. Draußen der zerrissene Himmel, das Gewimmel der Sterne, der gleiche Tag seit Jahrtausenden. Und immer präzise mit Datum versehen, die letzten Gelegenheitswerke.
Wenn man die späten Gedichte in einem Zug liest, fällt einem auf, fällt mir auf, dass einzelne Datierungen immer wiederkehren, über Jahre hinweg. Rund zwanzig Gedichte sind von Hölderlin/Scardanelli datiert worden, darunter allein vier mit dem 24. Mai 1748, drei mit dem 24. Mai 1758. Ein weiteres mit 24. Mai 1778. Auch der 24. Januar taucht auf, ebenso der 24. März, der 24. April.
Was hat das zu bedeuten? Was will Hölderlin mir mitteilen? Was ist geschehen am 24. Mai? Denn irgendetwas muss doch an diesem Tag geschehen sein, sonst würde man das Datum nicht immer wieder hinschreiben, über Jahre hinweg.
Ich kann zu dieser Frage im Netz nichts finden, in der Secundärliteratur auch nicht. Hat dort draußen jemand eine Idee? Wurde das alles bislang übersehen? (Kaum zu glauben).

Hölderlin, 1842


         Der Winter
       
         Das Feld ist kahl, auf ferner Höhe glänzet
         Der blaue Himmel nur, und wie die Pfade gehen,
         Erscheinet die Natur, als Einerlei, das Wehen
         Ist frisch, und die Natur von Helle nur umkränzet.
       
         Der Erde Stund ist sichtbar von dem Himmel
         Den ganzen Tag, in heller Nacht umgeben,
         Wenn hoch erscheint von Sternen das Gewimmel,
         Und geistiger das weit gedehnte Leben.

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2 Kommentare:

  1. Ich war zunächst etwas überrascht, über Tod nur in Erscheinung von Dichtern (natürlich männlichen) zu hören, die ihren Tod anscheinend überlebt haben. Ich glaube nicht recht, dass ich um Menschen trauern kann, die ich gar nicht kannte. Trauer ohne Liebe gibt es nicht. Sei die Liebe noch so schräg oder fantasiert, ohne sie kann ich doch nicht traurig sein, wenn die Geliebte/der Geliebte fehlt.

    Etwas macht die meisten Menschen Sorgen, nämlich 'was ist mir mir, wenn ich tot bin?'. Vielleicht kommt daher die Frage, was ist eigentlich mit den Toten jetzt. Ich beobachte auch ein Bedürfnis, sich irgendwie in die Zukunft zu bringen, sich erinnerlich zu machen, als hätte ohne dieses Fortexistieren nach dem Ableben das Leben keinen rechten Sinn. (Manche schreiben deswgen.) Merkwürdig, und ich will der Sache weiter auf der Spur bleiben.

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  2. Die anderen sind ja immer ein Spiegel, auch die, die ich nicht kenne - sie sind dann zumindest ein vorstellbarer Spiegel - und über meine Spiegelbilder kann ich trauern, sie sind mir ja nahe.
    Was die Dichterinnen anbelangt, die ich nicht nenne: vor 19oo gab es leider kaum bedeutende Dichterinnen, aus naheliegenden, patriachalischen Gründen, deshalb können in so einer Überlegung auch kaum Dichterinnen vorkommen. Die paar, wie Bettina von Arnim oder die Günderode liegen mir persönlich nicht so sehr, ich habe also einfach die Dichter genannt, denen ich mich verwandt fühle.

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