Freitag, 20. Juli 2012

Nach einer durchsoffenen Nacht (zusammen mit Björn, Tom und einem Überschuss Weinbrand vom Spätkauf, zu dem wir von einer Vernissage in Neukölln Abstecher machten), hatte ich die heftigste Panikattacke meines Lebens.
Die Vernissage war gelaufen und ich nach Hause gegangen, schwankte durch die Nacht, kam an leeren Ecken vorbei, am Innsbrucker Platz, an dem mir eine Woche zuvor noch ein gleichgültiger Fuchs entgegen getrottet war, fand die Wohnung und trank dort weiter, derweil ich mir Videoclips mit Musik meiner Jugend im Internet anschaute.
Frau und Kind waren ja Zelten, ich zwar keine Dreißig mehr, aber fest davon überzeugt, dass ich die alten Unarten schon wegstecken würde. Dann geisterte ich zum Bett und fiel in einen so schwarzen Schlaf, dass ich mich nicht mehr an das Einschlafen erinnern konnte, als ich am nächsten Morgen mit ausgedörrten Gliedern und fremden Gehirn erwachte.
Schon im Badezimmerspiegel, der mir fröhlich entgegen leuchtete, konnte ich die Verschiebung des Selbst erkennen, Gummifilter vor der Kameralinse, wie in dem Fassbinder-Film „Angst vor der Angst“, den ich am Tag zuvor angefangen hatte zu schauen. Ein leichtes Kribbeln in den Armen, von dem übermäßigen Sauerstoff, den mir die Vorangst in die Lungenbläschen trieb. Und die alte Fremdheit.
Aber alles noch roger, no problemo, Companero. Bis dann die bekannte Panik, der tückische Freund, von der Mitte des Leibes durch die plötzlich auseinander gerissenen Fleischlappen eilte.
Ich konnte gerade noch ein Jackett überstreifen, die Schuhe an die nackten Füße binden und nach draußen taumeln. Währenddessen etwas in meinem Körper, in meinem Ätherleib, in dieser undefinierbaren Scheiße dort drinnen hoch brauste und mich besitzen wollte, spätestens vor der Haustür auf der Straße dann auch Besitz von mir ergriff.
Mein Gedanke war: Krankenhaus, es geht zu Ende. Über dem wirren Geist der Panik ein Rest von Ich, das abwägte, das sich abfand mit dem nun bald einsetzenden Herzinfarkt. Dabei war es ja keine Neuigkeit; Panikanfälle hatte ich seit meiner frühen Jugend immer wieder ertragen müssen, das war mir in das Selbst gegossen, ein meist ruhiger Tümpel, der ab und an zu blubbern begann. Doch die letzten Jahre war es besser geworden, durch Alter und Psychoanalyse. Durch eine wissend stoische Haltung, die mich befähigte, diese Panik, die alle paar Monate (manchmal auch alle paar Wochen) auftrat, über mich hinweg branden zu lassen. (A burst of sound. This can not be happened).
Aber heute war es anders, löschte jeden kritischen Verstand in mir aus. Als ich durch die gepflegte Gartenanlage des Krankenhauses stolperte, umfasste mich plötzlich etwas schweres, trübes, das mir den Oberkörper zusammen schnürte, ich kam kaum noch weiter, die Umwelt war aus Aspik, ich stöhnte auf, mit letztem Atem, und sah den Eingang zur Notaufnahme, wusste aber, dass ich dort nicht mehr hingelangen würde. Neben mir spazierte ein Patient an den Blumenbeeten entlang und ich stammelte „Ich brauche einen Arzt“. Er schaute mich an und sagte gleichgültig „Ich bin kein Arzt“.
Also trieb ich meinen Körper weiter voran, durch den Aspik der Luft, hin zur Rettungsstelle. Und kam dort an, endlich, mit letzter Kraft, klammerte mich am Empfangstresen fest und murmelte „Mein Herz“.
Ich wurde sofort in einen Raum mit fünf Liegen gebracht, die mit Vorhängen voneinander getrennt waren (wie in einem alten Film: Schwester kommt gleich und bringt Morphin gegen die Schmerzen der Schrapnellverletzung). Man klebte mir Wegwerfplättchen auf die schweißnasse Brust und schloss mich ans EKG an, nahm mir Blut ab, um die Cholesterin- und Leberwerte zu ermitteln, die im Falle eines Herzversagens üblicherweise vervielfacht sind.
Nichts geschah, mein Herz pochte wieder ruhiger, ich bekam Atem, und sagte Amen, lieber Gott, nur ein Panikanfall, danke, Herrscher der Welt. Ich bekam Atem.
Neben mir, hinter den dünnen Vorhängen, lagen zwei andere Männer. Der eine hatte von seiner Chipkarte, die wohl mit einem Tragbaren EKG verbunden war, wenige Stunden zuvor einen Herzalarm mittels Piepton angesagt bekommen. Der war aber ein falscher Alarm gewesen, so dass der Patient jetzt mit dem Arzt diskutierte, ob er nicht nach Hause gehen könne, er kenne das ja schon, sei nicht so schlimm, alles roger. Der Arzt stimmte ihm zu, nachdem er mit dem Herzspezialisten der Klinik telefoniert hatte.
Hinter dem rechten Vorhang lag ein Kandidat wie ich, dem nur die Panik ins Fleisch gestiegen war, und dem jetzt seine resolute Ehefrau Wasser brachte, ihm gut zuredete. Er hingegen sagte immer wieder, er würde sich so merkwürdig fühlen, er könne sich an gar nichts mehr erinnern, ihm sei ganz fremd geworden, sich und der Welt gegenüber. Die Frau beruhigte fortwährend, das wird schon wieder, das wird schon wieder. Und ich hatte keine Frau an meiner Seite, meine Familie war in der Uckermark, was mir ein Grund für die Attacke gewesen sein dürfte, denn man fliegt ruhiger in freundlicher Umgebung.

Ich lag dort noch Stunden, bis zum frühen Abend, und hin und wieder kam ein freundlicher Arzt vorbei, um mich nach meiner Vorgeschichte zu befragen. Ich gab an, dass diese Unpässlichkeit vermutlich doch nur ein Panikanfall sei, und die Lage entspannte sich. Ich lag in der Notaufnahme, der EKG-Monitor machte leise Bling, und ich fand die Ruhe wieder. Endlich ein bisschen Ruhe und Erholung. Nichts mehr zu tun und noch am Leben.
Gegen sechs Uhr wurde mein Nachbar auf die Psychatrische geschickt und ich nach Hause.
Draußen schien die Sonne, das Leben war noch da, die Finsternis umfing mich nicht mehr, und ich lief mit weichen Knien zum Supermarkt um Süßigkeiten zu kaufen.
Mein schönstes Ferienerlebnis.

Jetzt sitze ich hier in meiner Kammer, an meinem Sekretär, und schreibe das erste Mal seit dem Anfall. Noch sitzt mir die Erschöpfung in den Gliedern, aber alles fügt sich wieder in meinem Kopf zusammen. Wie fragil dieses Ich ist, wusste ich schon lange, aber es ist immer wieder eine große Geburtstagsüberraschung, das Platzen des inneren Ballons zu fühlen. Wahrzunehmen, dass alles zu Ende, wenn auch noch nicht ans Sterben geht, wahrzunehmen, wie alles, was ich als meine Identität empfinde, zerstieben kann, und nichts zurück bleibt, als ein weiches, halb zerquetschtes Tier, eine Minusgestalt.
Doch in dem Moment, in der die Welle bricht und mich unter sich begräbt, reißt etwas sich in mir hoch, zwischen den eng stehenden Schleusen der Panik, zwischen denen die Todeskraft entlang strudelt, reißt sich also etwas hoch auf den Vorsprung über meinem Bewusstsein, das so real ist, dass ich es als Nukleus meines Selbst erkennen muss. Kein Gefühl ist intensiv wie dieses, keines schlägt mich derart zurück in die Ursprünge meiner Person, hin in die elternfreie Wiege, in das Krankenhausbettchen, in die stille, sprachlose Nacht, zurück hinter die Schranke der Erinnerung.
Ironisch, dass mich das dort hinbringt, wo ich am wenigsten sein will, in ein Krankenhaus.
Aber die Zeit schreitet fort, Panther Reh, und nichts bleibt in den Händen als Staub zurück, nicht einmal die Hände kann ich Herrn Gryphius reichen. Nicht einmal Staub kann verwehen. Sekundenschlaf, Erinnerungsströme, Zeitverwirbelung. A burst of sound. This can not be happened…

Nach der Umarmung Pans dann eine stille Woche im Klischee. Bücher und Kräutertee. Korrespondenzen und Regen vor den Fenstern. Zwei Tage nach dem Ereignis bekam ich per Post meine neue Lesebrille, ein zwanzig Euro teures Modell eines Internethändlers, und endlich konnte ich wieder schnell und flüssig lesen. Was für eine Sensation, was für ein Vergnügen. Seitdem ein Buch nach dem anderen und das Verlangen nach einer noch stärkeren Brille.

Der Gott Pan

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1 Kommentar:

  1. Robert Peters-Gehrke (cg24.12.10.09.rpg@t-online.de)27. Juli 2012 um 14:15

    Ich kenne Panikanfälle leider selber, Angstgefühle, Depressivität. Ich freue mich, dass Sie letztendlich wieder in die Ruhe und Klarheit kamen. Ihre Schilderung ist dem Ereignis angemessen und tröstete mich in gewisser Weise. Obwohl mit einer liebenden Frau beschenkt, bleibt ja das Gefühl der Fremdheit, die Nähe und Liebe sind großartig, aber das Wissen nicht allein mit seiner Disposition dazustehen, ist ebenfalls eine gute Hilfe. Danke für Ihre Worte.

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