Montag, 30. Juli 2012

(Die Sommerpause ist hiermit beendet. Ich habe lange nicht mehr eine so zähe Zeit erlebt, in der ich dergleich wenig schrieb. Ich weiß, andere würden das bei sich als eine hochproduktive Phase wahrnehmen, für mich aber kamen die letzten Wochen einem Writer´s block nahe. Also jetzt: Reset und Neustart. Der Arbeitsspeicher ist zwar noch etwas heiß gelaufen und die Kühlung zickt, aber was hilft´s. Wie Rainald Goetz schon sagte: Don´t cry, work.)

Ich habe vor einigen Tagen wieder die späte Gedichte Hölderlins gelesen, aus der Scardanelli-Zeit, als er im Turm saß und die Welt nicht reinlassen wollte. Nur ab und an zwang ihm ein edler (oder wenig edler) Besucher, ein Gaffer des vermeintlichen Unglücks, eine Handschrift ab, ein Gedicht. Und Hölderlin schrieb über die Jahreszeiten. Über Jahrzehnte schrieb er immer wieder nur und ausschließlich über den Lauf von Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Ich hatte immer Zugangsschwierigkeiten bei des Dichters Poemen, mir fehlte das richtige Billet für seine hochgezüchteten, graezisierenden Hymnen und Oden, mit denen er heute noch die Philologen beglückt, als ich aber eines Tages die späten Gedichte las, die man in den frühen 90ern noch suchen musste, war ich hingerissen. Und fragte mich gleich, ob ich das nur sei, weil der arme Hölderlin mich in seinem Irresein so sehr faszinierte. Waren das denn wirklich gute Gedichte? War das nicht eine erbärmliche Zerfallserscheinung?
Ich las diese Arbeiten über die Zeit immer wieder, und gerade vorgestern lagen sie erneut eisklar vor mir: es gibt aus dem 19ten Jahrhundert keine anderen dieser Qualität. Kühl, sternennah, von einer metallenen Todesahnung durchzogen, mit einem Blick auf die Welt, der nicht mehr von der Welt ist. Große Kunst bis auf das Mark reduziert. Sicher auch aus einem in sich mäandernden Geist hervor gebracht, aber doch formvollendet.
Der brave Hölderlin, in seinem Turm im schrecklichen Tübingen, mit kurzen, in die Stirn gekämmten Haaren. Nach Façon der Mode ganz veraltet die Frisur. Dabei hatte er jenen revolutionären Schnitt getragen, der in Frankreich kurz nach 1789 kreiert wurde, der das Erkennungszeichen der Les Incroyables war, den Dandys der neuen französischen Zeitrechnung („7. Brumaire im Jahre III“). Man raffte den Zopf des verachteten Ancient regime über dem Kopf und kappte ihn mit einer groben Schere, so dass das Schädeldach nur noch Stoppeln trug und die restlichen Locken an den Schläfen hinab hingen. Auch Novalis trug seine Haare in diesem Stil. Fichte in jungen Jahren ebenso. Das waren alles Punkrocker der Frühromantik.
Und jetzt tappte Hölderlin voller Unrast in seinem Turmzimmer hin und her und hatte eine verspätete, bonapartische Frisur. Wie sie auch ein schmallippiger Chevalier hätte tragen können.

Hölderlin

Einer der Unglaublichen

Novalis

Währenddessen hier in meiner Kammer Chansons von Georges Brassens laufen. Ein parisblauer Abend könnte das heute sein. Draußen dickt die Nacht ein, und in die Oberfläche der Seine fädeln sich die Regenschnüre. In das Selbstmordwasser.
Hinten, jenseits der blechbezogenen Dächer, hustet der Eifelturm seine bonbonfarbenen Lichtkaskaden in den Konfettihimmel, eine Kooperation von Pissarro und Van Gogh (der alte Holländer).
Nein, nein, draußen wimmern nur Berliner Katzen, und der Himmel ist ganz und gar Rammstein und Udo Jürgens.

Brassens habe ich lange nicht mehr gehört, aber ich durchstöberte letzte Woche in einer schwarzen Nacht das Internet und fand ein paar Videos von ihm auf Youtube. Was für eine Gestalt, was für ein Held meiner frühen Berliner Jahre.
Ich hörte ihn zum ersten Mal auf dem Kassettenrecorder meines Bruders, in einer muffigen Wohnung nah des Südsterns. Ich war gerade aus der Provinz gekommen, und mein Bruder hatte mir nicht nur einen Lyrikreader der Freien Universität in die Hand gedrückt, in dem ich Grünbein fand, Happel, Kling, Rosenlöcher (Schneebier!), sondern mir auch Musik vorgestellt, die ich nicht kannte: Brassens, Vissotzky, Lewschenko.
Zusammen mit den Platten von Suicide, Wire, Charlie Parker, Schubert und Element of Crime wurde das mein Soundtrack für die Großstadt. (Fahrten in der U-Bahn unter den Resten der Mauer hindurch, echte Proletarier mit Flaschen voller Bärenquell – das Sternburg der Nachwendezeit).

Vielleicht sollte ich mir auch so eine Schnurbart stehen lassen, wenn ich mir schon nicht den Zopf absäbele wie Herr Hölderlin?
Aber damit sähe ich nicht wie ein französischer Chansonier aus, sondern eher wie ein missglückter Cowboy. Wobei: auszusehen wie ein missglückter Rinderhirte, wäre natürlich auch nicht schlecht.

Oder ein Vollbart, wie ihn sich Björn Kuhligk und Jan Kuhlbrodt gerade haben wachsen lassen. Aber das juckt ja fürchterlich. Nein, ich bleibe bei Koteletten. Für einen Bart bin ich zu romantisch. Ich bin glatt rasiert und incroyable. Diese Bärte sind so Gründerzeit.

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