Freitag, 31. August 2012

Was alles schon verschwunden ist, auf den Straßen, in den Höfen, hinter den Häusern.
Rote Hydranten aus Eisen, Teppichklopfstangen, Mülltonnen aus Blech mit der Aufschrift „Keine heiße Asche einfüllen“. Photos in Schwarzweiß, aufgenommen von gestorbenen Müttern mit Instamatic-Kamera. (Aber dieses Format gibt es ja wieder, es heißt Instagram und ist eine Applikation in der anderen Realität).
Nicht erhaltenswert, die Einzelheiten meiner Kindheit. Stattdessen haben die öffentlichen Wasserpumpen aus der Zeit meiner Großeltern überlebt. Alle Fassaden frisch gestrichen. Nur hinterm Grazer Platz stehen noch Mietskasernen, grau und beruhigend, ein Ausblick in die Vergangenheit. (Dort wird Übermorgen eine Solidaritäts-Veranstaltung für einen Rabbiner stattfinden, der vor drei Tagen schwer geschlagen wurde, zwei Straßen weiter, von Judenhassern, die auch hier wohnen, in meinem Kiez, der mir so kindergleich unschuldig vorkam, die letzten Jahre. Merkwürdig ist: ich hab den Rabbi Daniel Alter nie bemerkt, obwohl wir nahezu Tür an Tür seit Jahren hier zusammen leben).
Auch verschwunden: Wikingjugend. Gottseidank. Ich erinnere diese kleinen, bösen Kinder, von ihren Eltern auf den falschen Weg gesetzt, wie sie seinerzeit in Lüneburg, in der Nachkriegszeit der 70er, zur Sonnwendfeier durch die Wiesen zogen. Auch verschwunden: Männer mit weggeschossenen Armen, in grauen Freizeit-Anzügen und mit schmalkrempigen Hüten auf den schwer durchkämpften Häuptern. Die krieg ich nicht aus meiner Erinnerung heraus. Die kommen immer wieder in meine Texte rein marschiert. Die waren so harmlos und 1942 junge Burschen, an der Front, oder in Babij Jar. Gottseidank weg, diese Alptraum-Gestalten in den Gassen.
Aber zugleich gab es auch banale Dinge, an die ich mich erinnern kann, denn ich war ja ein Kind, nichts weiter, nicht besonders weltgewandt, unbeleckt vom Krieg.
Verschwunden sind auch die Zeichenschablonen in den Deckeln der Nutella-Gläser, die einzelnen Pfeifen in den Cornflakes-Packungen, die man zu Panflöten zusammen setzen konnte, wenn man in einem halben Jahr zwölf Schachteln Cornflakes aufgegessen hatte.
Abgebaut auch die Telefonzellen, die öffentlichen Fernsprecher, durch deren gläserne Schächte die Groschen rollten, sichtbar für den Anrufer. „Fasse dich kurz“.
Und der Schnee lag höher und war weißer. Die Freibäder hatten gefährlichere Zehn-Meter-Bretter, und die Wespen dort waren gelber. Und ich war mehr Kind als heute.

Wieso ist mein Hirn so gebaut, dass ich mich immer erinnern muss, immer zurück in die Kindheit rutsche? Aber diese Gehirnstruktur mag der Grund sein dafür, dass ein Dichter aus mir werden musste. Denn in dem Moment, in dem ich mich zu erinnern begann, ich war Zwölf und kein Kind mehr, fing ich an zu schreiben. So bin ich ein Knecht meiner Erinnerungen geworden. Doch sie werden vergehen, ausgelöscht sein im Moment meines Todes. Zurück werden nur bleiben: Wasserpumpen, Gehwegplatten, vereinzelt Blumenkübel aus Waschbeton. Und natürlich Jüngere mit anderen Erinnerungen, an Parkuhren (die nicht mehr nach Parkuhren aussehen), an Shopping-Malls, an öffentliche Internet-Bildschirme in der Amerika-Gedenkbibliothek, die eine Generation später auch verschwunden sein werden. Alles nur ein Gleichnis. (Wer allein lebt, lebt auch im Geheimnis).

Photo: Martin Hawlisch

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1 Kommentar:

  1. Wow, nur ein absolutes Arschloch hält Kinderen, deren Eltern andere politische Ansichten haben, für böse. Deshalb: Sie sind ein absolutes Arschloch, Herr Voss!

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