Samstag, 24. April 2021

Der Tod lauert überall. Auf den Türklinken, in der Luft, im Atem fremder Menschen.
In letzter Zeit beschwert mich wieder der Gedanke, dass ich rapide älter werde. In fünf Tagen ereiche ich das 52. Lebensjahr. Wenn ich so alt wie meine Mutter werden sollte, bleiben mir noch dreizehn Jahre, wenn so alt wie mein Vater, noch sechzehn. Das ist nicht viel, das ist knapp bemessene Zeit.
Mein Vater ist mittlerweile fünfzehn Jahre Tod, meine Mutter vierzehn. Es sind also etwa so viele Jahre seither vergangen, wie mir noch bleiben würden, wenn ich so jung sterben würde, wie meine Eltern. Wobei: als mein Vater mit 67 Jahren starb dachte ich erst, das sei doch verteufelt früh, aber dann schaute ich in den Kohorten-Registern nach. Für einen Mann seines Jahrgangs war er genau durchschnittlich alt geworden: 67,5 Jahre.
Er war ganz einverstanden damit, in diesem Alter zu sterben, war sich sicher, sein Leben aureichend gelebt zu haben. Starb ohne sichtbare Angst an einem lauen Sommertag in einem Hospiz, bekleidet mit einem Krankenhaushemdchen, dass seine Rückseite durch einen Schlitz sehen ließ

Ich hingegen habe mir schon früh vorgenommen, 93 Jahre alt zu werden. Die Zahl kam zustande durch meine ausgeprägte Angstneurose, unter der ich früher litt. Alle wichtigen Dinge mussten mit der Zahl Drei (oder ihrem Vielfachen) zu tun haben. Das bedeutete, dreimal drei Mal auf's Holz klopfen, oder auf das Türblatt, nachdem ich die Tür abgeschlossen hatte (also drei Mal abgeschlossen und wieder aufgeschlossen hatte, um sie dann wieder jeweils abzuschließen). Oder ich musste drei Mal auf den Boden spucken, um zu überleben, oder neun Mal um einen Poller herumgehen, um nicht sofort des Todes zu sein. Wobei: wenn die Drohung der himmlischen Mächte sich auf ein "Sofort" bezogen, dann war ja noch alles in Butter. Schlimm wurde es erst, wenn der Nichtvollzug einer magischen Handlung den Tod innerhalb der nächsten 24 Stunden versprach. Denn bei einem "Sofort" war ich nach einigen Sekunden erlöst, bei einem "Die folgenden 24 Stunden" musste ich zittern bis zum nächsten Abend. Der Tod lauerte überall. In jedem Kellerfenster, in jeder Ritze, in meinem Kopf, in meinem Herz.

Schon in der nächsten Sekunde könnte mein Herz aufhören zu schlagen oder mein Hirn explodieren (so wie bei meiner Mutter, die allein in ihrer Wohnung sitzend vom Schlag getroffen wurde - man fand sie zwei Wochen später, denn es roch merkwürdig im Treppenhaus). Über den Tod denke ich nach, seit ich 11 Jahre alt bin, folglich seit nunmehr 40 Jahren. Covid-19 kann mich wenig schockieren. Ich bin abgehärtet. Ich habe den Tod in unzähligen Nächten gesehen und geschmeckt, gerochen und gefühlt. Schon als Kind, als ich mit einem schweren Fieber über Wochen im Bett lag, gefangen in Fieberträumen, am Rand des verzerrten Abgrunds, der nicht dunkel war, sondern hell wie die Unendlichkeit. Es war im Frühjahr 1978, und die Russische Grippe hatte mich in den klammen Fingern, wollte mich nicht mehr hergeben. Ich kann mich gut an die Linsensuppe erinnern, die meine Mutter kochte, als ich auf dem Weg der Besserung war, dem lang gedehnten Fiebertraum entronnen. Es gab danach nie wieder etwas, das so gut geschmeckt hatte. Ich hätte mein Erbteil gegeben für dieses Linsengericht.

Draußen ein Frühling mit der Seele eines Winters. Menschen auf den Straßen, bald schon tot, historische Fotografien, die in hundert Jahren beim Trödler liegen werden, wenn auch die Enkel gestorben sind an irgendeiner unbeschreibbaren Seuche. Alle schon jetzt vergessen, so wie ich.

Meine Eltern sind noch nicht vergessen. Unlängst habe ich meine tote Mutter animiert (genauer gesagt ein Foto von ihr). Die KI hat ihrem fest gefrorenen Gesicht neues Leben eingehaucht.
Manchmal habe ich das Gefühl, ich könnte sie einfach besuchen gehen. Denn es war doch erst letzte Woche, als ich bei ihr zum Essen war ... oder nicht? Es gab Linsensuppe.


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