Sonntag, 4. November 2012


Was nicht aufgeschrieben wird, das ist vergessen.
Die letzten Wochen habe ich kaum geschrieben, weder am Blog noch an anderen Texten. Und all die Erlebnisse, die ich jetzt nicht mehr erinnere, die sind in die Unterwelt meines Selbst abgetaucht. Auch wichtige Ereignisse, wie die Lesung von Hallinger letzte Woche, werden mehr und mehr zu Schemen.
Ohnehin eine faszinierende Sache, was sich einprägt und was nicht. Wenn man sich in einem unspektakulären Moment des Lebens vornimmt, diesen sich einzuprägen, funktioniert das sogar. Nachdem ich die Wohnung meiner gestorbenen Mutter geräumt hatte, vor nunmehr fünf Jahren, fuhr ich zum ehemaligen Haus meiner Großeltern, stand lange davor und ging dann zurück zur Straßenbahnhaltestelle. Dort wartete ich, mit Blick auf die Brücke, die sich über den Stichkanal zur Küste wölbte. Die Statue auf der Brüstung sah noch immer aus, wie meine Großmutter in jungen Jahren mit ihren zwei ältesten Töchtern. Das war schon immer Familienlegende gewesen und hatte sich mir in früher Kindheit eingeprägt, als ich jeden Sommer an dieser Brücke an der Laan van Meerdervoort stand. Die Sonne schien fast golden, der Himmel war weit und holländisch. Und ich prägte mir den Moment ein, dachte kurz über einen Bioladen nach, der am anderen Ende der Straße aufgemacht haben sollte – selbst das erinnere ich noch jetzt – schaute die Gleise entlang. Und seitdem liegt mir diese Szenerie klar vor dem inneren Auge. An das Gesicht meiner verstorbenen Mutter kann ich mich schon nicht mehr so gut erinnern. Hätte ich keine Photos, wäre ihr Antlitz genau nur noch das: ein Antlitz.
Also lasst mich schnell noch über Hallingers Lesung schreiben (mit dem ich zur Zeit eine Partie Schach per Email spiele; er hat mal 1850 Elo gehabt – und er wird mich fertig machen, befürchte ich).
Wir kamen zusammen am vergangenen Sonntagabend im Wedding. Im Parlandopark lasen eine norwegische Dichterin und eben Markus Hallinger, dessen Debütband ich unlängst in der Lyrikediton 2000 herausgegeben habe. Und obwohl ich die Gedichte fast auswendig kannte, ich hatte sie ja lektoriert, verblüfften sie mich erneut, faszinierten mich gesprochen noch einmal mehr.
Gute Gedichte sind das, uneitel und genau, ganz neben der Spur, auf der die meisten Dichter heutzutage fahren. Eigen sind sie. Und der Gedichtband heißt auch so: Das Eigene.
Ich bin sehr froh, dass ich dieses Buch herausgeben durfte.
Die Lesung war gut besucht; in erster Linie waren andere Dichter und Dichterinnen gekommen, was ja eine ähnliche Bedeutung hat, wie vorwiegend asiatisches Publikum in einem chinesischen Restaurant in Berlin: das Essen muss phantastisch sein.

Hendrik Jackson

Marte Huke, Hendrik Jackson

Karla Reimert, Markus Hallinger

Steffen Popp, Adrijana Bohocki, Birgit Kreipe

Steffen Popp, Adrijana Bohocki, Birgit Kreipe

Hendrik Jackson, Markus Hallinger

Hendrik Jackson, Marte Huke

Markus Hallinger

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Gerade habe ich nach einem Photo der Statue auf der Brücke gesucht und sie auf der Homepage eines Mannes gefunden, der 1945 in Den Haag geboren wurde und seine Kindheit um die Ecke der Laan van Meerdervoort verbracht hat. Da meine Mutter 1943 zur Welt kam und ebenfalls ihre Kindheit in diesem Viertel verbrachte, auch täglich mit der Tram Nr. 3 von der Brücke abfuhr, ist es fast schon wahrscheinlich, dass sich die beiden kannten, zusammen auf der Straße gespielt haben, vielleicht sogar die selbe Schule besuchten. Auch dieser Mann, Julius Röntgen, schreibt sehnsüchtig über seine Erinnerung an die Statue. So zentrieren sich viele Gedanken um dieses Bild eines Sommermorgens, eines Winternachmittags auf der Brücke, auf der auch ich so oft stand, mit Blick auf die steinerne Mutter mit ihren zwei steinernen Kindern.
Das Internet ist eine Art von Noosphäre geworden, ein Nullpunktfeld, in dem sich alle personengebundenen Neuronen vereinen. Es ist eigentlich der konkrete Himmel geworden, ein Jenseits aus Nullen und Einsen.

Conradbrug (Photo: Julius Röntgen)

Dirk Wolbers: "Veilig in 't verkeer", 1937 

Meine Mutter, im Alter meines Sohnes

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