Freitag, 8. Juni 2012

Ich las gerade einen tiefgründigen, geradezu erhellenden Artikel über die Midlife crisis . . . im Spiegel!
Der Artikel war ausführlich, gut geschrieben, auch mit Zitaten aus der wissenschaftlichen und belletristischen Literatur angereichert. Das war eine Art von Journalismus, die meinen Kopf zum Denken brachte. Hoppla, der Spiegel bringt mich zum denken, wie ist das möglich? Sogar ein Stahlstich von Gustave Doré zu Dantes Inferno war dem Artikel beigegeben, und am Rand stand eine Reklame für das neueste Princess-Coupé der Automarke Leyland . . . ach ja, ich hatte ein Spiegelheft vom 19. Juli 1976 in der Hand.
Wo ist das alles hin? Der gute Journalismus, der einen zum Nachdenken bringt? - Weg ist er; und erzählt mir nicht, dass dieser Eindruck meiner Midlife crisis geschuldet ist.
Ein paar Seiten weiter konnte ich in der Spiegel-Bestsellerliste lesen, dass Max Frischs "Montauk" auf Platz 5 stand. Montauk! Ein großes Werk der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, vermutlich Frischs bestes Buch! Auf Platz 5! Kein übler Trash auf Platz 5, sondern Weltliteratur. Unfassbar! - Wo ist das hin? Wieso steh ich am 7. Juni 2012 nicht auf Platz 5 der Spiegel-Bestsellerliste?
Und ganz hinten das Totenregister. Wer da alles so gestorben ist, Berühmtheiten! Kennt heute kein Mensch mehr. Staub. (We come with the dust, and we gone with the wind).

In diesem Heft fand ich auch eine erbsgrüne Anzeige für einen elektrischen Fondue-Topf von Siemens. Fondue war damals so eine Modeerscheinung. Ich kann mich erinnern, wie meine Mutter zweimal im Jahr in der Küche den ganzen Nachmittag lang Dips zusammen rührte, mit Knoblauch, mit Sahne, mit Sherry. Und am Abend saß die abgezählte Familie um den Fondue-Topf ("Pass auf, da ist heißes Öl drin"), und ich stippte die Schweine- und Kuhstückchen in das wie Hölle brodelnde Öl.
Dazu wurden gereicht: in Würfel geschnittenes Weißbrot und kleine Flaschen Lift ("Limonade mit der Löschkraft der Zitrone"). Ein Fest in den späten 70ern. Nie wieder werde ich so leckeres Fleisch essen. Nie wieder werde ich meine Eltern sehen. Das Rezept für die Sherry-Soße hat meine Mutter mit ins nasse, grüne Grab genommen. Der Fondue-Topf überdauerte ihren Tod, kam aber irgendwann abhanden. Vielleicht steht er noch auf dem zugigen Speicher des Landhauses meines Bruders, auf dem auch ihr Neo-Barocker Schminktisch in einer Ecke hockt. Fliederfarben lackiert.

(Und immer wieder die Botschaft: "Pfeifenraucher sind interessant und haben Erfolg").




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